Eine Betroffene erzählt

High-Need-Babys: "Entspannte Babys haben entspannte Eltern – nicht andersrum"

Nach sechs Wochen wird es besser – diesen Rat hören viele Eltern. Doch was, wenn das Baby einfach immer weiter schreit und schreit und schreit? Ingrid hatte vier solcher "High-Need-Babys" – und verrät, was diese Erfahrung wirklich mit den betroffenen Eltern macht …

Mutter hält ihr schreiendes Baby im Arm.© iStock/SanyaSM
Schreibabys können Eltern an ihre Grenzen bringen.

Als Ingrid zum ersten Mal Mutter wurde, hatte sie sich alles ganz anders vorgestellt. Ein selig schlummerndes Baby in seinem Bettchen, stundenlange Spaziergänge mit dem Kinderwagen – diese Momente, die sich alle werdenden Eltern so romantisch ausmalen, blieben ihr verwehrt. Denn Ingrids Baby war ein High-Need-Baby. "Ich habe von Anfang an gespürt, dass etwas anders ist. Ich wollte es nicht 'Schreibaby' nennen, weil ich mich geschämt habe. Ich dachte, es liegt an mir."

Monate voller Schlafmangel und Ängsten

Über Monate war ihr Baby kaum zu beruhigen. Eine zermürbende Zeit geprägt von Schlafmangel und Sorgen. "Mein Baby hat wochenlang maximal 30 Minuten am Stück geschlafen – auch nachts – und dann wieder geschrien. Es hat nur auf dem Arm geschlafen, wenn ich dabei herumgelaufen bin, Tag und Nacht", erinnert sich Ingrid. Die gelernte Krankenschwester und Integrationsfachkraft für Kinder mit Autismus und ADHS hat seither viele Weiterbildung durchlaufen und hilft auf ihrem Blog "Laut und Liebe" inzwischen anderen betroffenen Eltern.

"Bei den abendlichen Schreiattacken dachte ich oft, dass es vielleicht innere Verletzungen oder Krankheiten hat, obwohl es laut Kinderärzten und Hebamme gesund war. Diese Schreiattacken gingen manchmal länger als vier Stunden am Stück."

Mein Baby ließ sich nicht trösten, nicht mit Liebe, nicht mit kuscheln, nicht mit singen.

Die Folge waren Einsamkeit und Isolation. "Der Freundeskreis und meine Familie wussten nicht, wie sie reagieren sollten und haben sich dann nicht mehr gemeldet. Ich konnte das Haus nicht verlassen, weil ich nicht wusste, wie ich mein Baby transportieren soll. Es schrie im Kinderwagen, es schrie im Auto und im Tragetuch."

Nur beim Stillen kam das Baby zur Ruhe

Um ihr Baby zu beruhigen, hat Ingrid ihre eigenen Bedürfnisse massiv zurückgestellt. "Ich habe fast ein Jahr lang den ganzen Tag ohne Essen im Schaukelstuhl im dunklen Zimmer gesessen und dauergestillt, weil mein Baby nur dort ruhig war. Das Rascheln von Essensverpackungen oder das Klirren von Geschirr haben es umgehend geweckt und zu weiteren Schreiattacken geführt. Auch wollte ich nichts trinken, um es mit meinem Toilettengang nicht wieder zu wecken. Viele betroffene Eltern halten stundenlang den Toilettengang ein, um das auf ihnen schlafende Baby nicht zu wecken und Schreien auszulösen. Mir ging es beim ersten Baby auch so."

Entspannte Babys haben entspannte Eltern. Nicht andersherum.

Egal, bei wem Ingrid nach Hilfe suchte – niemand hatte eine Erklärung, warum ihr Baby so viel schreit. "Kinderärzte und Hebamme wussten keine Lösung und haben mich geghosted."

"Ist das Ihr erstes Kind?" – "Babys schreien nun mal" – "Da müssen Sie durch!" Sätze, die die verzweifelte Mutter unzählige Mal hören musste.

In dieser Zeit machte sie die Erfahrung, dass bei schreienden Babys oft die Mutter dafür verantwortlich gemacht werde. "Sie sind zu angespannt", heißt es dann. Inzwischen weiß Ingrid: "Das stimmt nicht. Entspannte Babys haben entspannte Eltern. Nicht andersherum."

Betroffene Eltern fühlen sich im Stich gelassen

Oft wurde die Schuld auch bei dem kleinen Baby gesucht: "Ihr Baby weiß genau, wie es Sie manipulieren kann." Eine Unterstellung, die Ingrid zurückweist: "Babys können nicht manipulieren!"

Das Gefühl, nie alleine und trotzdem so einsam zu sein, hat sie in dieser Zeit an ihre Grenzen gebracht. "Teilhabe am sozialen Leben war nicht mehr möglich", sagt sie. "Ich hatte auch keine Rückbildung, da mein Baby dort nur geweint hat und sich von der Hebamme des Kurses nicht beruhigen ließ."

Gefühle zwischen Wut und Scham

Eltern von Schreibabys geraten oft in eine gedankliche Abwärtsspirale. So erging es auch Ingrid. "Ich spürte Wut und Enttäuschung. Auf mich selbst und leider auch auf mein Baby. Ich schämte mich damals sehr. Heute weiß ich, dass diese Gedanken normal sind – aber gefährlich! Wir müssen darüber sprechen und es sichtbar machen!"

Als Expertin weiß sie: "Manche Eltern, die diese Wut spüren, entladen sie am Baby. Die meisten Babys, die Opfer vom Schütteltrauma sind, sind Babys, die viel schreien. Das ist schrecklich! Gleichzeitig wird das Thema, dass manche Babys exzessiv schreien, totgeschwiegen. Die vor Müdigkeit und Überlastung nicht zurechnungsfähigen Eltern werden im Stich gelassen."

In ihrer Verzweiflung suchte Ingrid die Schuld oft bei sich selbst: "Ich habe gedacht, dass ich eine schlechte Mutter bin und mein Baby deshalb so viel weinen muss. Dass andere Eltern es besser können. Oder dass ich etwas in der Schwangerschaft falsch gemacht habe. Diese Gedanken haben so viele Mamas intensiver Babys. Viele bereuen, Mama geworden zu sein. Dabei leisten Eltern intensiver Babys unendlich viel mehr als andere und werden dabei gesellschaftlich isoliert."

Babyschreien kann auch etwas Gutes sein

Weil keine Hilfe von außen kam, lernte Ingrid mit der Zeit aus eigener Kraft, mit der Situation umzugehen. "Es wurde besser, nachdem ich mir selbst beigebracht habe, was solche intensiven Babys brauchen. Dass manche Kinder länger brauchen, um auf der Welt anzukommen und dass das okay ist. Viele Babys weinen nicht wegen Bauchweh, sondern wegen Bauchheimweh."

Ingrid lernte, das Babyschreien liebevoll und sicher zu beruhigen oder zu begleiten. "Ich hatte vier intensive Babys und sie haben aus ganz unterschiedlichen Gründen geweint. Schreien ist Kommunikation. Das Baby möchte etwas mitteilen. Das ist etwas Gutes!"

Wichtig sei, dass das Baby von den richtigen Fachpersonen untersucht wird – auch, wenn Kinderärzte oder die Hebamme sagen, dass es gesund sei.

Inzwischen hilft Ingrid anderen Eltern, die durch das andauernde Schreien ihrer Babys an ihre Grenzen geraten. "Ich habe Followerinnen, die unter der Dunstabzugshaube auf dem Küchenboden geschlafen haben, weil das Baby nur dort ruhig war. Und Eltern, die Nachts stundenlang todmüde mit dem Baby im Tuch durch die Straßen getorkelt sind, weil das Baby sonst nur geschrien hat. Viele haben durch die Schreizeit körperliche oder seelische Leiden bekommen."

Hilfe bei anderen Betroffenen suchen

Ihr Tipp an alle Mütter und Väter, die gerade selbst solch eine schwierige Zeit erleben: "Das Schreien deines Babys sagt nichts darüber aus, ob du eine gute Mama bist oder nicht. Wichtig ist, wie du mit dem Schreien umgehst. Glaube an dich, auch, wenn dir sonst niemand glaubt. Dein Erleben ist echt, die Not deines Babys ist echt! Keine Fachperson hat das Recht, dies kleinzureden oder dich ohne Hilfe weg zu schicken."

Sie weiß heute: "Wer es nicht erlebt hat, kann es nicht verstehen. Suche dir Hilfe bei Menschen, die selbst ein 'Schreibaby' oder 'High-Need-Baby' hatten und die nachvollziehen können, was ihr durchmacht."

Wichtig sei, sich in Erinnerung zu rufen, dass ein Baby immer sein bestes gebe. "Es schreit nicht, um dich zu ärgern. Es schreit, weil es nicht anders kann."

Nicht immer höre das Schreien automatisch nach drei Monaten auf. "Es ist normal, dass es oft länger dauert." Auch seien nicht immer Blähungen der Auslöser abendlichen Schreiens.

Ingrids Appell: "Wenn Du Wut auf Dein Baby fühlst, lege es sofort sicher ab und gehe aus dem Zimmer. Es ist besser, kurz alleine zu weinen, als geschüttelt zu werden und nie wieder weinen zu können. Es ist ein Zeichen von Stärke, sich Hilfe zu suchen."

Anzeichen, dass du ein "High-Need-Baby" hast

Der Begriff "High-Need-Baby" wurde von William Sears, Professor für Kinderheilkunde in Kalifornien, geprägt. Man versteht darunter Babys mit sehr ausgeprägten Grundbedürfnissen.

Folgende Anzeichen können auf ein „High-Need-Baby“ hinweisen:

Das Baby ist ...

… sehr intensiv, schreit viel und laut
… sehr aktiv, bewegt sich ständig und kommt kaum zur Ruhe
… scheinbar ständig hungrig und verlangt fortlaufend nach der Brust
… sehr fordernd und verlangt die sofortige Befriedigung seiner Bedürfnisse
… wacht ständig auf
… ständig unzufrieden
… sehr sensibel und reagiert auf kleinste Veränderungen
… lässt sich nicht ablegen
… erträgt keine Trennung von den engsten Bindungspersonen

Hilfe finden Eltern unter anderem in Schreiambulanzen, die es inzwischen in den meisten Städten gibt.

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