Interview mit Kathrin Burri

Langes Stillen: "Die Mehrheit der Mamas macht es leider anders"

Kathrin Burri hat mehr als 5.500 Eltern befragt und ein Buch über "Langes Stillen" geschrieben. Wir haben sie interviewt.

Langes Stillen wird von vielen leider immer noch als seltsam empfunden. © Foto: Getty Images/filadendron
Langes Stillen wird von vielen leider immer noch als seltsam empfunden.

Liebe Kathrin, du begleitest seit Jahren Frauen beim Mamawerden und -sein. Wieso ist langes Stillen noch immer ein Tabuthema?

Das ist eine gute Frage. Die naheliegendste Antwort ist: weil die Mehrheit es anders macht. Über die Hälfte aller Mütter stillt bereits nach sechs Monaten ab. Wenn das Umfeld darauf drängt, der Wiedereinstieg in den Job ansteht, ein Ratgeber oder der Kinderarzt empfohlen hat, mit Beikost zu beginnen. Außerdem fehlen einigen Mamas einfach die Vorbilder! Frauen, die länger als ein Jahr stillen, schlägt oft große Skepsis entgegen. Viele von ihnen hören Kommentare wie: "Dein Kind wird nicht ausreichend versorgt", "Das ist doch nicht normal!" oder "Du kannst wohl nicht loslassen?"

Was bewirken solche Vorwürfe?

Bei vielen lösen sie Verunsicherung und Scham aus. Die Mamas fühlen sich in ihrer Mutterrolle in eine Ecke gedrängt, obwohl sie nur das Beste für ihr Kind wollen. Daraufhin geben viele Mütter ihren Kindern nur noch heimlich die Brust, vermeiden, darüber zu sprechen oder stillen gar deshalb ab. Aus Angst vor weiteren Anfeindungen und Belehrungen, welche übrigens meist aus Unwissen oder eigener Verunsicherung von nicht in der Säuglingsernährung ausgebildeten Personen ausgesprochen werden.

Aktuelle Studie: Langes Stillen schützt vor Asthma

Ein US-Forscherteam hat herausfinden können: Je länger Kinder gestillt werden, desto geringer wird ihr Risiko, an Asthma zu erkranken. Die Atemwegserkrankung bildet sich in der Regel in den ersten sechs Lebensjahren heraus. Bei der Untersuchung der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York wurden drei verschiedene Studien zur Rate gezogen. Das Ergebnis, nachzulesen auf der Website des BVF (Berufsverband der Frauenärtze e. V.): "Wurden die Säuglinge zwei bis vier, fünf bis sechs oder über sechs Monate exklusiv gestillt, so lag deren Asthmarisiko 36 Prozent, 39 Prozent oder 48 Prozent niedriger als bei Kindern, die weniger als zwei Monate gestillt wurden." Tatsächlich stillen in Deutschland aber weniger als die Hälfte der Mütter ihr Kind länger als vier Monate ohne Beikost.

Welchen Tipp gibst du Frauen, die sich unter Druck gesetzt fühlen?

Dass sie sich zunächst selbst einmal klarmachen, dass es den Begriff Langzeitstillen eigentlich gar nicht geben dürfte. Zieht man die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation in Betracht, könnte man grundsätzlich sagen, dass alles unter der empfohlenen Stilldauer von zwei Jahren Kurzzeitstillen ist. Stattdessen spricht man fälschlicherweise von Langzeitstillen. Ich würde es eher als ein "Normalzeitstillen" bezeichnen. Und das kann man ruhig auch anderen genauso erklären – sofern man das Bedürfnis hat, sich zu rechtfertigen ... Das Gute ist: Dass Muttermilch erwiesenermaßen das Beste für Babys und auch Kleinkinder ist und weltweit von Gesundheitsorganisationen, Hebammen und Kinderärzten ausdrücklich empfohlen wird, muss man ja zum Glück inzwischen keinem mehr ernsthaft erklären.

Aber bei allen Argumenten: Was, wenn es dem Papa zu viel wird?

In meinen Augen ist es wichtig, herauszufinden, weshalb der Papa das Gefühl hat, dass abgestillt werden sollte. Fühlt er sich durch das Stillen und die Nähe zwischen der Partnerin und dem Kind an den Rand gedrängt oder gar vernachlässigt? Sollten Unstimmigkeiten innerhalb der entstehen und diese auf das Stillen geschoben werden, ist es ratsam, darüber zu sprechen. Wertschätzende Kommunikation ist ein wichtiger Faktor, um Beziehung zu leben. Der Papa darf erfahren, dass er eine sehr wichtige und zentrale Aufgabe innerhalb der Familie hat: die Familie liebevoll und zugewandt unterstützen, sich um die größeren Kinder kümmern oder auch mal im Haushalt einspringen, wenn der Familienalltag wieder mal kopfsteht.

Du hast eine der größten Umfragen gemacht, die es je zum Thema langes Stillen gab. Welche Ergebnisse waren auch für dich überraschend?

Allem voran war ich überwältigt von der großen Zahl an Teilnehmerinnen und Teilnehmern, denn in meinen Vorstellungen rechnete ich vorab mit rund 200 Teilnehmern – es wurden fast 30-mal so viele. Die meisten der Kinder waren zum Zeitpunkt der Umfrage zweieinhalb Jahre alt, also älter als das empfohlene Stillalter der WHO. 64 Kinder waren sogar älter als acht Jahre alt. Sehr erfreulich finde ich, dass bei vielen Umfrageteilnehmerinnen trotz weniger gutem Stillstart durch ihren starken Willen oder mit guter Unterstützung langes Stillen möglich war. Rund 83 Prozent aller Mütter und Väter haben angegeben, dass sich die Partnerschaft aufgrund des Stillens nicht verändert hat, auch wenn dies oft gedacht wird. Toll fand ich auch, dass ich von 2.330 Frauen einen persönlichen Kommentar erhielt, was mir zeigte, dass ein großer Bedarf bestand, über dieses Thema zu sprechen.

Wie war das bei deinen eigenen Stillzeiten?

Vor der ersten Geburt habe ich mir nicht mal ansatzweise Gedanken zum Stillen gemacht, und die erste Zeit war dann auch sehr schwierig und anstrengend. Als über acht Jahre später unser zweites Kind zur Welt kam, war ich um ein Vielfaches informierter, aber auch dieser Stillstart war alles andere als einfach. Dennoch genossen wir zwei lange Stillzeiten, und beide Male haben sich unsere Kinder erst im Kleinkindalter selbst abgestillt. Völlig selbstbestimmt und in ihrem Tempo. Geplant waren diese langen Stillzeiten nicht. Wie bei den meisten Familien ergab es sich auch bei uns, und es stimmte so für uns. In meinem Freundeskreis stillte kaum jemand länger als ein Jahr, sodass ich Gleichgesinnte in Stilltreffen und online in sozialen Netzwerken kennenlernte und mich darüber austauschen konnte. Mehr und mehr keimte in mir der Gedanke, ein Buch über dieses Tabuthema zu schreiben, weil ich merkte, dass viele Frauen völlig alleine und teilweise durch abwertende Kritik unter Druck geraten und ich mir eine Aufklärung zu diesem natürlichen Vorgang wünschte.

Unser Buch-Tipp: "Langes Stillen"

Kathrin Burri befragte 5.210 Mamas und 321 Papas aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zum Thema langes Stillen. In ihrem Buch stellt sie aber nicht nur Zahlen und Fakten vor, sondern lässt auch Eltern ihre ganz persönlichen Stillgeschichten erzählen, sprach außerdem mit Stillberaterinnen, Ärzten, einer Psychologin, einer Schlafberaterin – und Stillgegnern. Mit wunderschönen Fotos der Fotografin Gina Grüter.
"Langes Stillen. Natürlich. Gesund. Bedürfnisorientiert.", 208 Seiten, Kösel-Verlag, 18 Euro, über Amazon.de

Welche Botschaft möchtest du Eltern mit auf den Weg geben?

Bereitet euch bereits in der Schwangerschaft auf das Stillen vor und sucht für euch den passenden Geburtsort und das passende Geburtsteam. Wir werden heutzutage viel zu wenig gelehrt, auf die innere Stimme, auf das Bauchgefühl oder gar unser Herz zu vertrauen. In der Stillbeziehung mit dem eigenen Kind darf eine Frau aber unbedingt auf ihren Mutterinstinkt zählen – auch wenn dieser erst erwachen muss. Langes Stillen ist natürlich, gesund und bedürfnisorientiert – und es gibt für jede Familie einen anderen passenden Weg. Ob mit oder ohne stillen, ob kurz oder lang, ob mit Hilfsmitteln oder ohne. Solange die Familie zufrieden ist mit der Situation, soll sie sich mit allem Genuss und Freude dem Stillen zuwenden. Denn Stillen ist weit mehr als nur Nahrungsaufnahme. Es bedeutet ein Zusammensein, ein Ruhepol im teils anstrengenden Alltag von Kind und Mutter – und davon können wir alle ein lautes Liedchen singen ...

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