
Das Leben mit einer Tochter. Ein Konstrukt, eine Illusion, ein Wunsch, an den ich beinahe täglich denke. Dabei erinnere ich mich an einen stinknormalen Einkauf während meiner Schwangerschaft. Damals wusste ich das Geschlecht meines Babys noch nicht. Ich stehe an der Käsetheke, bereit, mir einen überteuerten Gruyère zu kaufen. Und da sehe ich sie: Mutter und Tochter. Arm in Arm vor dem Camembert. Die Mama vielleicht Mitte Vierzig, die Tochter im Teenageralter. Und während meine Hand auf meinem riesigen Bauch ruht, frage ich mich: Werde ich das einmal erleben dürfen? Würde mein Kind, auch wenn es ein Sohn werden sollte, als Jugendlicher seinen Arm in der Öffentlichkeit um mich legen? Würde er mir, nachdem wir den Bergkäse gekauft haben, von seinen Sorgen erzählen? Mir, schlendernd im Supermarktgang, sein Herz öffnen?
Ein knappes Jahr später stehe ich nun wieder im besagten Supermarkt. Vor mir: Mein Sohn im Kindersitz des Einkaufwagens. Seine süßen Minifüße zappeln zwischen dem Metall. Die Kiwis in seinen Händen kullern auf den Boden. Und ich hoffe, meinen Herzenswunsch nach einer Tochter eines Tages genauso fallenzulassen. Es ist ein heikles Thema. Es hier niederzuschreiben, kostet Überwindung. Denn wenn ich es schwarz auf weiß lese, wächst mein schlechtes Gewissen ins Unermessliche. Die Wahrheit ist: Ich hadere immer noch damit, dass ich einen Jungen habe und kein Mädchen.
Töchter teilen ihr Leben. Und Söhne?
Dabei geht es mir nicht darum, mein Kind in pinke Kleidung zu hüllen oder Prinzessin zu spielen. Wobei ich zugeben muss: Auf Zöpfe flechten hätte ich schon Bock. Ich grüble über die Zukunft. Ich kenne kein einziges Mutter-Sohn-Gespann, das so eng ist wie meine Beziehung zu meiner eigenen Mutter. Gleichzeitig sehe ich bei Freundinnen ähnlich enge Bindungen. Überspitzt gesagt: Die Männer in meinem Umfeld schreiben ihren Eltern gefühlt einmal im Monat "Mir geht's gut", während die Girls fleißig Fotos schicken, mal zum Frühstück bei sich einladen, Familienurlaube planen. Ihr Leben teilen.
Ich bin insgeheim immer davon ausgegangen, dass ich mal mit zwei Töchtern über den Spielplatz toben werde. Wahrscheinlich, weil ich selber eine Schwester habe und wir – zusammen mit meiner Mutter – ein eingeschweißtes Trio sind. Ich habe auch eine tolle Bindung zu meinem Vater. Trotzdem gibt es immer wieder Situationen, in denen ich merke, dass ich mit meiner Mutter natürlich andere Interessen teile. Zum Beispiel wenn sie mir ein Video von einem Flashmob zeigt, in dem Menschen Weihnachtslieder singen, und wir schmachtend am Bildschirm hängen, während mein Vater mir daraufhin ein Slow-Motion-Video zeigt, das er von seinem Autoblinker aufgenommen hat. Dann ertappe ich mich dabei, wie ich meinen Sohnemann anschaue, seine Stupsnase betrachte und denke: Krass. Irgendwann bist du ein Mann mit Bart.
Gender Disappointment als Krise
Ich bin felsenfest der Meinung, dass sich jeder, auch wenn es kaum jemand ausspricht, insgeheim eher ein Mädchen oder einen Jungen wünscht. Aber was passiert, wenn der Wunsch nach einem Geschlecht nicht erfüllt wird?
Gerne lächelt das die Gesellschaft weg: "Hauptsache gesund", eine politisch korrekte Antwort. Ja klar, wer wünscht sich denn kein gesundes Baby? Ohne jeden Zweifel steht die Gesundheit an erster Stelle. Doch es gibt eben auch eine zweite Stelle. Gender Disappointment beschreibt die Enttäuschung über das vermeintlich "falsche" Geschlecht. Dabei geht es nicht um einen kleinen Dämpfer der Euphorie, der schnell vergessen ist. Gender Disappointment beschreibt eine Krise, die sogar die Vorfreude auf das Kind überschatten kann. Seriöse Studien gibt es noch nicht. Aber laut Hebammen kann Gender Disappointment ernste Folgen haben: eine stockende Geburt, eine zögerliche Bindung zum Kind oder Probleme bei der Milchbildung.
Ich persönlich wollte mich erst bei der Geburt vom Geschlecht überraschen lassen. Einerseits, weil ich es so spannender und natürlicher empfinde. Andererseits, weil ich Angst hatte, auf dem Ultraschall Eier statt Eierstöcke zu entdecken. Ich wollte mich lieber auf die Hormone bei der Geburt verlassen, die all meine Sorgen wegwischen würden. Ich hoffte aus ganzem Herzen, dass es mir am Ende einfach egal sein würde, ob nun ein X- oder ein Y-Chromosom das Rennen gemacht hat. War es auch. Zumindest kurzzeitig. Nach dem Notkaiserschnitt fühlte ich mich einfach nur leer. Als ich meinen Sohn dann zum ersten Mal im Krankenhaus stillte, füllte sich mein Körper mit dieser Liebe, die einen vor Glückseligkeit explodieren lässt. Ich hatte einen Sohn. Er war goldig und ich erleichtert. Wenn er in seinem kleinen Beistellbett lag und sich sein Brustkorb ruhig hebte, dachte ich nicht an Söhne und Töchter, sondern an dieses wunderbare Herz, was kräftig in ihm schlug und meins zum Pochen brachte.
Zu 50 Prozent besteht dann die Möglichkeit, dass ich eine Jungsmama bleibe
Wenige Wochen später bemerke ich dann bei Kontrollterminen beim Frauenarzt, dass sich wieder dieses Gefühl im Bauch breit macht. Das Gefühl, wenn ich Mädchenmamas sehe: Neid. Ich spüre es, wenn mir bei Kleinanzeigen ein Verkäufer schreibt, dass "die Matschhose seiner Tochter hervorragend gepasst hat". Oder wenn die schwangere Kollegin freudig verkündet, dass es ein Mädchen wird. Verdammte Glückspilze. Oder wenn ich bei Instagram durch eine Gender-Reveal-Party (furchtbare Events!) scrolle, und die Frau total ausrastet, wenn das rosa Konfetti aus dem Luftballon herausplatzt.
Eine kleine Chance gibt es übrigens noch: Wir wollen ein zweites Kind. Zu 50 Prozent besteht dann die Möglichkeit, dass ich eine Jungsmama bleibe.
Wie schaffe ich es in diesem Fall, den Herzenswunsch nach einem Mädchen zu mildern? Wie stoppe ich das Gedankenkarussell des Hätte, Wäre, Könnte…? In erster Linie hilft reden. Mit dem Partner. Freunden. Müttern. Wir fühlen, was wir fühlen. Auch, wenn wir uns bewusst darüber sind, welches Glück wir haben, überhaupt ein Kind wohlbehalten auf die Welt gebracht haben zu dürfen. Außerdem hilft der Ausblick einer modernen Gesellschaft, in der sich geschlechtsneutralere Erziehung Stück für Stück mehr etabliert. Vor allem aber helfen mir Artikel wie dieser hier. Natürlich weiß ich bei diesem Tabuthema, dass nicht wenige Leser und Leserinnen mit dem Kopf schütteln werden. Doch wenn sich auch nur eine Mutter in diesem Artikel wiederfindet, haben die Zeilen ihr Ziel erreicht.
Dir, liebe Mama, sei gesagt:
Es ist okay, wie du fühlst.
Es ist normal, liebe Mama, sich ein Geschlecht zu wünschen.
Es ist auch normal, enttäuscht zu sein.
Du bist nicht allein.
Vielleicht sehen wir uns sogar mal im realen Leben. Vielleicht an der Käsetheke.
Jede von uns Arm in Arm mit ihren Söhnen.
Autorin: Alina Pelling