
"Mama, weißt du noch, als ich in der Vorschule immer so viel Heimweh hatte?" Die Frage meines Sohnes erwischt mich kalt – und ruft sofort eine Bandbreite an negativen Emotionen bei mir ab. Natürlich erinnere ich mich an das Drama direkt am Tag nach der Einschulung. Und an die vielen Tränen, die die ersten Wochen seines Schulstarts geprägt haben. Nur: Ich hatte nie darüber nachgedacht, dass er das auch tut. Die unangenehme Phase seiner Schulzeit (und sie war wirklich dramatisch) dauerte gerade einmal drei Wochen, dann fand mein Sohn Freunde in und Freude an der Schule. Seither waren drei Jahre vergangen und irgendwie war ich stets davon ausgegangen, dass sein Unterbewusstsein diesen heftigen, aber kurzen "Fehlstart" verdrängen würde. Ja, ich hatte gehofft und gedacht, dass mein Sohn von der Grundschule nur die schönen Zeiten mit der großen Pause, seiner Fußball-Clique und der Klassenfahrt zum Bauernhof abspeichern würde. Aber so ist es nicht: Genau wie ich erinnert mein Sohn sich ganz genau an "die schlimme Zeit". Und an diesem Tag erzählt er mir so detailliert und ausführlich von einzelnen Situationen aus seinen ersten Schulwochen, von Momenten, in denen er weinend im Klassenzimmer saß und mich vermisst hat, dass mir bewusstwird: Das sind Erinnerungen, die bleiben werden. Für immer.
Werden Erinnerungen schlimmer mit der Zeit?
Als die Erkenntnis sich gesetzt hat, wird mir übel. Das war’s, ich kann es nicht mehr ändern: Mein Sohn hat den Schulstart auf ewig als "schlimm" abgespeichert. Und wer weiß, wie sich diese gedankliche Notiz im Laufe der Jahre und Jahrzehnte entwickeln wird! Wird das Erlebte in seiner Erinnerung mit den Jahren dramatischer werden? Sollte er je von einer Psychologin gefragt werden, ob er eine glückliche Kindheit hatte, wird er dann sagen "Nun ja, in der Schule hatte ich es schwer."? Und was, wenn seine eigenen Kinder eines Tages kurz vor der Einschulung stehen und sich aufgeregt auf ihre Schultüte freuen? Wird dann mein Sohn, ihr Vater, ihr Vorbild, vor ihnen stehen und ihnen mit grimmiger Miene sagen: "Mhh, freut euch nicht zu früh, bei Papa war die Schule richtig schlimm, ich habe da GANZ viel geweint, und das wird bei euch vielleicht auch so sein!"?
Woran erinnern wir uns selbst?
Wenn ich an meine eigene Kindheit zurückdenke, fallen mir vor allem schöne Details ein. Die kleine Poststation aus Pappe, mit der meine Schwester und ich immer gespielt haben. Oder der "Getränkeautomat", den wir aus Kartons selbstgebaut hatten (und der nur funktionierte, wenn eine von uns im Karton drinsaß und das Servieren der Getränke per Hand übernahm). Auch das Barbie-Haus aus Backsteinen, das mein Vater für mich auf der Terrasse gebaut hatte, habe ich noch genau vor Augen. Oder den wiederkehrenden wunderbaren Moment, wenn meine Mutter vom Tanken zurück zum Auto kam – und wir in ihren Händen ein Überraschungsei für jede uns entdeckten. In meinem Kopf ergeben alle Erinnerungen zusammen eine rundum schöne, ich würde sogar sagen: eine perfekte Kindheit. Und ich erinnere mich nur an zwei Situationen, in denen meine Mutter mich angeschrien hat.
Was werden meine Kinder sich merken?
Während ich in diesen Erinnerungen schwelge und mich frage, ob das mit dem zwei Mal Anschreien wirklich hinkommen kann, schaue ich meinen Kindern beim Spielen zu. Allein heute habe ich schon drei Mal geschrien. Eigentlich gibt es jeden Abend vorm Schlafengehen Gezeter zwischen uns. Wegen ungeputzter Zähne, unaufgeräumter Zimmer und nicht angezogener Schlafanzüge. Und zum zweiten Mal innerhalb dieser Stunde wird mir schlecht: Ob sie sich später, wenn sie erwachsen sind, vor allem daran erinnern? An die Nörgeleien vorm Schlafengehen? So wie mein Sohn sich vor allem an die schlimmen drei Wochen in der Schule erinnert? Das wäre so unglaublich unfair, denn an jedem einzelnen Abend folgt bei uns auf das stressige Bettfertig-Machen das gemütliche Bettfertig-Sein, mit einer Folge der Lieblingssendung im Fernsehen und mindestens zwei, oft auch mehr Lieblingsbilderbüchern, die vorgelesen werden, aneinander gekuschelt im Bett, vollkommen egal wie laut und chaotisch der Tag zuvor war. Bitte, liebe Kinder, könnt ihr euch einfach daran erinnern, wenn ihr groß seid? An dieses wunderbare Ritual – und nicht an die Streitigkeiten davor? Was kann ich tun, damit das gemütliche und von uns allen geliebte Vorlesen eine bleibende Kindheitserinnerung wird, und nicht die verhassten Minuten zuvor? Am liebsten würde ich ihre kleinen, wunderbaren Gehirne hier und jetzt programmieren, darauf, dass sie nur die großartigen, die schönen Augenblicke für ewig einschließen, und das ganze Unnötige, Überflüssige, das Nervige und Unschöne vergessen. Am besten wäre es, jede Kindheitserinnerung müsse erst einmal an mir, an Türsteherin Mama vorbei. Und ich allein entscheide dann, was bleiben darf – und was nichts zu suchen hat in den Gedanken und Erinnerungen meiner beiden wundervollen Kinder.
Ausgewählte Erinnerungen, die bleiben
Genau diese beiden wundervollen Kinder flüstern gerade leise vor sich hin. "Was tuschelt ihr denn?", frage ich neugierig. "Nichts", grinst mein Sohn, "ich habe Mina nur von meiner Schultüte erzählt und dass du ihr ja vielleicht auch so eine bastelst, wenn sie in die Schule kommt. Weil – die war echt cool." Nun strahlt auch die Tochter, die sich so riesig auf ihren ersten Schultag freut: "Tom hat gesagt, die gab es nur ein einziges Mal auf der Welt, weil du hast das alles selbst gebastelt, so eine kann man nicht kaufen!" Und da fällt sie auch mir wieder ein, die riesige blaue Schultüte, die ich in einer nervenaufreibenden Nachtschicht mit Legoplatten beklebt und mit kleinen Bausteinen geschmückt hatte. Stolz wie Oskar hatte mein Sohn sie über den Schulhof getragen und noch Wochen danach damit gespielt. Komisch, die ganze Bastelaktion hatte ich komplett vergessen (vermutlich, weil mich der Heißkleber in besagter Nacht in den Wahnsinn getrieben hatte). Und ich kann gar nicht beschreiben, wie sehr ich mich gerade darüber freue, dass mein Sohn das alles nicht vergessen hat – und diese, seine, Erinnerungen gerade mit mir und seiner kleinen Schwester geteilt hat.
"Natürlich bekommst du so eine Schultüte!", sage ich zu meiner Tochter und nehme erst sie, dann meinen Sohn ganz fest in den Arm. Und spüre in dieser Sekunde, wie richtig und wichtig es ist, dass die Kinder einfach ihre eigenen Erinnerungen zusammenstellen. Nicht, dass ich je wirklich eine Option gehabt hätte, in ihre Gedanken einzugreifen. Doch dieser Moment gerade hat mir das Vertrauen zurückgegeben, dass das auch gut so ist. Und dennoch, nur vorsichtshalber, nehme ich mir ganz fest vor, ab heute nicht mehr so viel zu meckern wegen so etwas Banalem wie dem Zähneputzen. Und wer weiß: Sollte ich das wirklich schaffen – vielleicht erinnern sich die beiden dann ja eines Tages daran, dass ich mir das abendliche Motzen ganz plötzlich abgewöhnt habe …
Autorin: Silke Schröckert