
"Mama, wann kommt Ben endlich? Mir ist langweilig!" Meine Tochter betont die Vokale in "laaangweeeiliiig" so gedehnt und genervt, wie es nur eine Fünfjährige in der Sinnkrise kann. "Der ist bestimmt gleich da, Schatz, geh doch schonmal schaukeln!", säusele ich lächelnd. Innerlich ist mir gerade gar nicht nach dem Gute-Laune-Gesicht zumute, das ich für meine Tochter auflege. Ich schaue auf die Uhr: fünf nach halb vier. Seit 35 Minuten sitzen wir auf dem Spielplatz und warten auf Ben und seine Mutter. Und in mir keimt langsam, aber sicher der Verdacht, dass die beiden nicht mehr kommen werden.
Geht nichts mehr ohne Reminder?
Ich weiß gar nicht, worüber ich mich mehr ärgere: Über die Unzuverlässigkeit von Bens Mutter – oder über mich selbst. Gestern Abend hatte ich noch überlegt, ob ich ein kurzes "Steht unser Playdate für morgen?" per Textnachricht senden soll, habe es irgendwo zwischen Käsereste-aus-der-Küchencouch-kratzen und Kinder-ins-Bett-bringen jedoch wieder vergessen. Aber warum ist so ein Reminder überhaupt nötig? Immerhin hatten wir uns beim letzten gemeinsamen Spielplatzbesuch direkt für heute verabredet. Hätte sich bei einer von uns etwas an den Plänen geändert, dann wäre das ein Grund zum Schreiben. Aber es ist doch wohl nicht zu viel verlangt, sich an eine mündlich getroffene Vereinbarung von vor drei Tagen zu halten – oder erwarte ich da zu viel?
Verabredet, bis sich was Besseres ergibt
Vermutlich bin ich altmodischer, als ich mir selbst eingestehen möchte. Aber dieses ständige "Bleibt es bei morgen?" oder "Steht unsere Verabredung noch?" per WhatsApp, Instagram oder wo auch immer empfinde ich als absolutes Unding unserer kommunikationsüberlasteten Zeit. Warum sollte eine Verabredung denn nicht mehr stehen? Sollte es nicht klar sein, dass sie selbstverständlich bestehen bleibt – es sei denn, eine Krankheit oder ein Notfall kommt dazwischen?
Und dennoch: Uns wurden schon viel zu häufig aus völlig banalen Gründen Playdates kurzfristig abgesagt (oder, wie heute, einfach nicht eingehalten). So häufig, dass ich langsam das Gefühl entwickle, dass eine Zusage zum nachmittäglichen Spielen mit Kindern heute nichts weiter ist als eine Option. Eine vage Möglichkeit; etwas, das geschehen könnte – sofern nichts Besseres dazwischenkommt. Eine spannendere Verabredung zum Beispiel. Vielleicht eine mit einem Kind, mit dem das eigene heute besser befreundet ist. Kita-Kinder sind schließlich noch recht sprunghaft, was ihre Freundschaften anbelangt. Neulich habe ich online das erste Mal eine "optionale Geburtstagseinladung" gesehen: Das Geburtstagskind (beziehungsweise natürlich deren Eltern) lud seine Gäste unter der Voraussetzung ein, dass sie am Tag der bevorstehenden Party noch genau so gut befreundet seien wie heute. Änderungen der Freundes- und damit Gästeliste vorbehalten. Und die Zusage von heute hat morgen schon keine Bedeutung mehr. Was sind das für sonderbare Werte, die unsere Generation ihren Kindern da mitgibt?
Das kann jedem Mal passieren …
Ich darf meiner Tochter nun gleich erklären, dass sie umsonst auf ihren Freund gewartet hat – und vermutlich Tränen trocknen. Und das nur, weil Zuverlässigkeit in Bens Erziehung offensichtlich keine große Rolle zu spielen scheint.
Als ich in absolut unfairen Gedanken all die Dinge runterrattere, die Bens Mutter ganz sicher außerdem falsch gemacht hat und mir wütend ausrechne, wann sie das spätestens bereuen wird, reißt mich plötzlich eine Stimme aus meiner bizarren Fantasie. "Ihr seid ja früh dran, schon zurück vom Zahnarzt?" Bens Mutter strahlt mich an, ihr Sohn flitzt bereits freudestrahlend zu meiner Tochter Richtung Schaukel. "Gestern wollte ich dir noch schreiben, ob es bei heute bleibt", setzt sie fort, als sie sich neben mich auf die Spielplatzbank fallen lässt. "Aber dann dachte ich: Warum sollte es denn nicht bei heute bleiben – wenn es beim Zahnarzt länger dauert, hättest du ja sicher Bescheid gesagt."
"Steht unser Termin, Frau Schröckert?"
Drei Gedanken schießen mir in diesem Moment gleichzeitig in den Kopf. Der erste ermahnt mich, dass ich nicht immer so vorschnell urteilen darf. Der zweite erinnert mich schuldbewusst daran, dass wir uns heute tatsächlich eine Stunde später als sonst verabredet hatten, weil ich vorher noch einen Termin hatte. Wie konnte ich das vergessen?
Und der dritte Gedanke ist mir selbst am allerpeinlichsten: Aber könnte meine Zahnärztin das nächste Mal nicht einen kleinen Reminder schicken und mich einfach fragen, ob unser Termin noch steht?
Autorin: Silke Schröckert