
Liebe Mama,
ich weiß, dass du dich manchmal wunderst. Du denkst, ich bin nun schon so groß, gehe zur Schule und will trotzdem immer mal wieder bei dir schlafen. Und ich habe auch wirklich meine Gründe dafür. Willst du sie wissen? Wenn du mich fragst, erzähle ich sie dir gerne.
Manchmal schaue ich abends einen Film oder eine Sendung. Wir haben uns darauf geeinigt, dass ich zweimal pro Woche fernsehen darf. Am liebsten gucke ich etwas, das für mein Alter oder sogar für jüngere Kinder gedacht ist. Ich habe keine Lust auf so Baller-Kram oder anderes komisches Zeug, das mich nur beunruhigt. Meine Freunde sind das mehr gewöhnt als ich, weil sie viel öfter alles Mögliche auf der Konsole, am Computer oder Handy spielen und andere Filme schauen. Aber ich mag meine kleine, heile Welt. Doch sogar bei den Filmen, die ich sehe, gibt es manchmal etwas, das mir Angst einjagt. Zum Beispiel, dass ein Elternteil stirbt oder ein Freund wegzieht. Darum fühle ich mich in solchen Nächten sicherer, wenn ich neben dir schlafen darf.
Und weißt du was, Mama? Auch ohne Filme schnappe ich in der Schule und anderswo alles Mögliche auf. Zum Beispiel, dass Krieg ist. Oft reden wir dann darüber und ich weiß ja auch, dass schlimme Dinge nicht jedem passieren, nicht überall und auch nicht ständig. Und dass wir uns unsere Welt ein Stück weit selbst gestalten können. Aber gerade wenn ich abends im Bett liege, sehe ich manchmal so Bilder vor meinem inneren Auge, die echt unangenehm sind. Dann gibst du mir Sicherheit, einfach, weil ich weiß, dass du da bist. Und außerdem: Wer sagt denn überhaupt, ab welchem Alter Kinder nicht mehr bei ihren Eltern schlafen dürfen?! Mein Freund, der aus Indien kommt, und sein Bruder schlafen IMMER bei den Eltern, das ist bei ihnen ganz normal.
Liebe Mama, ich weiß, die Entscheidung fiel euch selbst nicht leicht, aber du und Papa habt euch vor einiger Zeit getrennt. Nicht so richtig, wir wohnen ja noch zusammen. Aber ihr seid eben kein Paar mehr. Da ist für mich eine Welt zerbrochen. Ich hatte immer geglaubt, uns würde das nicht passieren. Am liebsten will ich auch gar nicht daran denken. Aber manchmal kommt es eben doch hoch. Und das verunsichert mich ganz schön doll. Ich weiß dann manchmal nicht, ob ich mich noch sicher fühlen kann in meiner kleinen, eigentlich heilen Welt, oder ob einer von euch vielleicht plötzlich weg ist. Natürlich weiß ich vom Kopf her, dass ihr das alles mit mir besprecht, aber vom Gefühl her ist es trotzdem so.
Manchmal gehst du auch abends weg und Papa ist noch da. Wenn ich dann bei dir schlafe, fühle ich mich wieder ganz sicher, auch wenn du noch nicht da bist. Weil ich weiß, dass du später in der Nacht neben mir liegen wirst. Auch wenn ich schlafe, beruhigt es mich beim Einschlafen, wenn ich weiß, dass du nachher wieder hier sein wirst.
Jetzt verstehst du hoffentlich etwas besser, warum ich manchmal einfach echt gerne noch bei dir schlafen möchte.
Dein Sohn
Autorin: Judit Schmidt