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"Mama, die Turnschuhe haben einen rosa Streifen", brüllt Levi vorwurfsvoll durch den kompletten Schuhladen. Die Verkäuferin guckt mitleidig, wendet sich dann verständnisvoll meinem Sohn zu: "Da hast du recht, das sind ja auch Mädchenschuhe." Mädchenschuhe? Vielleicht mag Levi einfach nur lieber Gelb ... Seitdem mein Sohn auf die Welt kam, gibt es in unserem Alltag jede Menge Schubladen. Die für Jungs auf der einen Seite und die für Mädchen auf der anderen. Und das, was drin ist, bleibt oft unter sich – auch wenn ich mir immer geschworen hatte, dass mein Kind ohne gängige Stereotype aufwachsen wird. Aber ist das überhaupt möglich?
Ob in der Kita, in der Schule, bei der Arbeit, Partnerwahl oder beim Einkauf im Supermarkt: Ein Stereotyp dient zunächst einmal dazu, schnelle Entscheidungen in unklaren Situationen treffen zu können, wenn für die Abwägung aller Möglichkeiten keine Zeit bleibt. Stellen wir uns zum Beispiel vor, wir sind nachts unterwegs und brauchen Hilfe. Wir sehen unweit entfernt einen Streifenpolizisten an seinem Auto und einen dunkel gekleideten Mann, der an einer Laterne lehnt. Wen werden wir ansprechen? Wir müssen in Sekunden entscheiden, ob wir dem Mann vertrauen, der wie ein Ordnungshüter aussieht, oder dem dunkel gekleideten Fremden. Da wir die "Polizei als Freund und Helfer" kennengelernt haben, gehen wir stereotyp davon aus, dass Männer, die wie Polizisten aussehen, vertrauenswürdig sind. Ob das die richtige Annahme war, wissen wir natürlich erst hinterher.
Wenn das Weltbild ins Wanken gerät
Eine unklare Entscheidungssituation bringt unser Denken in einen Zustand der kognitiven Dissonanz. Das heißt, es entsteht ein unangenehmer Gefühlszustand, bei dem Konfl ikte zwischen unterschiedlichen Wahrnehmungen und der zu fällenden Entscheidung entstehen. Kognitive Dissonanz taucht aber nicht nur in tatsächlichen, sondern auch in sozialen "Gefahrensituationen" auf. Und – vor allem bei Kindern – auch in ganz harmlosen Momenten.
Levis Weltbild etwa geriet ins Wanken, als er (noch vor Corona) sah, wie mir ein vietnamesischer Mann im Nagelstudio die Fingernägel lackierte. "Mama, ist der Mann schwul?", fragte er mich auf dem Weg zum Auto, und ich hatte keine Ahnung, wie er zu dieser Annahme kam. Ich betonte, dass es doch nicht seltsam sei, dass ein Mann im Kosmetikstudio arbeitet. Vielleicht in Deutschland noch ein bisschen, aber in Asien … Levi unterbrach meine hilflosen Ausführungen: "Aber dafür sind bei uns ja alle Friseure schwul!"
Stereotype sagen viel über den Erfahrungshintergrund, das Lebensumfeld und die Erziehung aus. All das prägt uns in der Einschätzung anderer Menschen und dabei, Sachverhalte differenziert einzuordnen. So findet es Levi zum Beispiel normal, dass er von klein auf reitet, obwohl er bereits im Kindergarten von anderen Jungs dafür als Mädchen aufgezogen wurde.
Gibt es im Spitzensport viele sehr erfolgreiche Reiter, dreht sich im Kindesalter alles nur um ponyverrückte Mädchen. So findet man bei Kinderreitklamotten kaum etwas, das ohne rosa und Glitzer auskommt. Da wundert es nicht, dass praktisch jeder Pferdefilm mit weiblichen Hauptdarstellern besetzt ist, in Büchern beinahe ausschließlich Mädchen Abenteuer auf dem Ponyhof erleben.
Geschlechtsneutrale Kleidung: geht doch!
Keine Zielgruppe, kein Markt. Umgekehrt sind die Helden der gängigen Zeichentrickformate noch immer männlich; immerhin bei den Detektiv- und Abenteuer-Geschichten findet langsam ein Umdenken statt, kommen endlich auch die Mädels mal groß raus. Und auch geschlechtsneutrale Mode liegt im Trend. Unter dem Namen "Celinununu" hat Céline Dion ein Label für Unisex-Kindermode gegründet. Die kanadische Sängerin möchte Kindern damit helfen, frei und kreativ zu denken. In Dions Konzept gibt es keine Kategorien für männlich und weiblich, ausgesucht wird alleine nach Alter des Kindes und dem gewünschten Kleidungsstück.
Unsere Gesellschaft scheint also immerhin ein gutes Stück weiter zu sein, als das noch vor einigen Jahren der Fall war. Aber geht es nicht noch ein bisschen vorurteilsfreier? Stereotype sortieren unsere Wahrnehmung und verhindern, dass wir in Alltagssituationen in Gedankenkreisen gefangen darum ringen, uns für oder gegen etwas zu entscheiden. Dennoch sind sie ein sperriges Gut, das immer wieder hinterfragt werden muss, um nicht zur Autobahn des eingegrenzten Denkens zu werden. Kann es also sein, dass die Kunst im Umgang mit eingefahrenen Denkmustern daher weniger in der Vermeidung von Vorannahmen liegt als darin, ihnen offen zu begegnen?
Die Kinder als Vorbild
"Hast du schon mal erzählt, wie viele supererfolgreiche Springreiter es gibt?", frage ich Levi, nachdem er wieder einmal von anderen Jungs mit seinem "Mädchen-Hobby" gehänselt worden war. Ein paar Monate später wählt Levi in der Schule "Basteln" und "KreativAG", und ich frage ihn, ob außer ihm noch andere Jungs dabei sind. "Nein, nur Mädchen", sagt er wertfrei – und ich bin stolz. Wenn unsere Kinder das können, derart genderneutral zu denken: dann schaffen wir Großen das ja wohl auch. Tschüss, Stereotype!
Wie Eltern es schaffen, geschlechtsneutral zu erziehen
Eigene Denkmuster hinterfragen
Euer Sohn spielt gerne mit den Puppen seiner Schwester? Gut so! Ab ca. vier Jahren befinden sich Kinder in der Phase der Geschlechtsidentifikation und stellen fest, dass sie physisch unterschiedlich sind. Es ist Teil der Entwicklung, zu überprüfen und auszuprobieren, was Mädchen und Jungen für Spiele spielen. Unterstützt eure Kleinen dabei, wertneutral und frei ihre Identität zu entwickeln. Großartig, wenn euer Sohn dadurch später ein Mann wird, der ganz selbst verständlich sein Baby wickelt – und eure Tochter die Bohrmaschine bedienen kann!
Vorurteile der Kinder besprechen
Redet mit euren Kindern über ihre eigenen Vorannahmen und die ihres Umfelds. Wie kommen die Minis zu ihren Überzeugungen – wenn sie zum Beispiel den Friseur plötzlich für schwul halten? Fragt sie, ob das einen Unterschied beim Haareschneiden macht. Differenzierung beugt starren Denkmustern vor. Kinder müssen erst lernen, Dinge richtig einzuordnen.
Ängste ablegen
Natürlich möchtet ihr nicht, dass euer Kind von anderen ausgegrenzt wird, andererseits könnt ihr es nicht vor jeder unangenehmen Situation bewahren. Wenn eure Tochter lieber Fußball spielen statt Ballett tanzen will und Jeans besser findet als Kleider – lasst sie, auch wenn ihr andere Vorstellungen hattet! Euer Sohn will heute partout das pinke Samt-Prinzessinnenkleid (und nichts anderes!) anziehen – was spricht dagegen? Toll, wenn die Minis schon früh selbstbewusst genug sind und ihnen blöde Sprüche von anderen nichts ausmachen. Und selbst wenn nicht: Es gehört zum Leben dazu, auch Gefühle wie Scham und Unsicherheit gegenüber anderen kennenzulernen. Es schützt sie, wenn Eltern damit sensibel umgehen – und wenn ihr selbst eure Ängste vor Ausgrenzung ablegt.
Stereotypisierende Aussagen vermeiden
"Ist nicht schlimm, dass du nicht so schön malst wie deine Schwester. Du bist ja auch ein Junge, dafür kannst du besser mit Lego bauen …" Auch wenn ihr es gut meint: Mit solchen Aussagen festigt ihr Rollenklischees. Versucht eher, die Fähigkeiten eurer Kinder unabhängig von Geschlechtsstereotypen wahrzunehmen. Erzählt ihnen von der Physikerin, die Kanzlerin wurde – macht ihnen Mut zur eigenen Entwicklung, auch wenn diese vielleicht nicht mit den alteingesessenen Rollenklischees eurer Familie übereinstimmt.
Genderneutrale Sprache nutzen
"Morgen gehen wir zum Zahnarzt." Häufig benutzen wir im Alltag die männliche Form, obwohl wir im konkreten Fall gar nicht von einem Mann sprechen. Versucht, präziser zu sein: "Morgen hast du einen Termin bei deiner Zahnärztin." Oder formuliert es geschlechtsneutral: "Morgen hast du eine Zahnbehandlung." Diese Differenzierung in der Alltagssprache hilft Kindern, gleiche Leistungen bei Erwachsenen auch als solche wahrzunehmen.
Autorin: Nina Meyer