Auch die Seele muss wachsen

Innere Wachstumsschübe Teil 1: Frühe Kindheit

Die körperlichen Wachstumsschübe bei Kindern werden grob in drei Phasen unterteilt: Von der Geburt bis zum dritten Lebensjahr wachsen Kinder besonders schnell, bis zur Pubertät verlangsamt sich das Wachstum dann etwas und in der Pubertät selbst geht es dann noch einmal richtig los. Aber wie sieht das innere Wachstum der Jungen und Mädchen aus? Verläuft die seelische Entwicklung auch in Schüben? Bindungstherapeutin und Fünffach-Mama Katharina Pommer erläutert in drei zusammenhängenden Gastbeiträgen die seelische Entwicklung in der frühen Kindheit, in der mittleren und späten Kindheit und in der Jugend.

Die kindliche Entwicklung geschieht sowohl körperlich als auch seelisch in Wachstumsschüben.© Foto: Getty Images
Die kindliche Entwicklung geschieht sowohl körperlich als auch seelisch in Wachstumsschüben.

Das seelische Wachstum in der frühen Kindheit (drei bis sechs Jahre)

Die frühe Kindheit ist geprägt von rasanter Entwicklung. In der Phase der frühen Kindheit finden wir beispielsweise das magische Denken: Das Kind glaubt an übernatürliche Kräfte und Märchenwesen. So werden Naturerscheinungen höheren Mächten zugeschrieben. Die kindliche Umwelt ist stark emotional besetzt, was sich auf das seelische Gleichgewicht auswirkt. Ist Mama beispielsweise traurig oder sauer, fühlt sich das Kind direkt für deren Laune verantwortlich. Es kann in dieser Zeit noch nicht trennen zwischen: Mama ärgert sich, weil sie ein Problem mit dem Finanzamt hat oder mit mir. Außerdem kann es nicht unterscheiden, ob sich Mama an seinem Verhalten oder an ihm als Mensch stört. Meistens bezieht es alles auf sich. Die Erfahrung mit dieser sogenannten "kindlichen Omnipotenz" ist besonders ausschlaggebend für den weiteren Lebensweg des Kindes. Wenn wir in dieser Phase nicht lernen, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem Ärger über mein Verhalten oder ob Mama sich ärgert, weil wir schlecht als Mensch sind, wird es später für uns eine Herausforderung sein, Grenzen zu setzen, unseren Selbstwert unabhängig von anderen wahrzunehmen oder Entscheidungen zu treffen. Hier lernen wir, ob wir in Ordnung sind, so wie wir sind, ob wir Fehler machen dürfen, die Welt entdecken und spielen dürfen oder eben nicht. 

Man kann das auch als Egozentrismus betiteln. Das Kind bezieht alles auf sich und schließt von sich auf die Umwelt.

Das Kind glaubt außerdem, dass alle Dinge seiner Umgebung mit den gleichen Fähigkeiten ausgestattet sind wie es selbst und auch belebt sind. So ist ein Tisch, an dem man sich gestoßen hat, ein böser Tisch, der einem absichtlich wehgetan hat. Oder wenn im Sandkasten der Junge nebenan die gerade eben gebaute Ritterburg zerstört oder den Bagger klaut, erlebt dies ein Zweijähriger so, als hätte ihm dieser Junge soeben einen Teil seines Selbst weggenommen. Das so oft geforderte Teilen stellt in diesem Alter eine große Überforderung für das Kind dar.

Die Welt plötzlich anders sehen: neue Fähigkeiten für Drei- und Vierjährige

Kinder erkennen auch erst ab dem vierten Lebensjahr, dass andere Personen nicht die gleiche Weltsicht haben müssen und anders handeln als ihnen bekannt ist. Vorher denkt es: "Wenn ich Duplo spielen mag, wollen das alle anderen auch." Es kann gar nicht wahrnehmen, dass das Gegenüber vielleicht andere Bedürfnisse haben könnte. Deshalb überfordert man Kinder unter vier Jahren damit, wenn man diese Art der Empathie von ihnen verlangt. 

Ab etwa dreieinhalb Jahren führt das Kind das Handlungsergebnis (Erfolg oder Misserfolg) auf die eigene Tüchtigkeit zurück und empfindet dabei Stolz oder Scham. Wie empfindsam diese Phase ist, können wir uns sicherlich vorstellen. Wenn wir unser Kind dazu beglückwünschen, einen Turm gebaut zu haben, tragen wir erheblich zu dessen Selbstwert bei. Schimpfen wir mit dem Kind, indem wir sagen: "Du bist böse, wenn du noch einmal den Turm kaputt machst", wird es große Scham empfinden und das Gefühl haben, als Mensch schlecht zu sein. Deshalb rate ich dazu, wenn man Kinder in diesem Alter zurechtweisen möchte, dies so zu formulieren: "Du hast Spaß daran, den Turm von Lieselotte immer wieder umzuwerfen. Schau mal, das macht Lieselotte, die ihn gebaut hat, sehr traurig. Lass uns ihr gemeinsam helfen, ihn aufzubauen und schauen, ob wir für dich eigene Bauklötze finden. Damit kannst du deinen eigenen Turm bauen und umwerfen."

Anzeichen für große seelische Wachstumsschübe mit etwa fünf Jahren

Mit circa fünf Jahren hängt das Ausmaß der erlebten eigenen Tüchtigkeit vom Schweregrad der Aufgabe ab. Außerdem ist es noch wichtig für das Kind, dass es die Erwartungen der Erwachsenen erfüllt. In diesem Alter finden es Kinder toll, wenn sie eine Aufgabe als schwer erleben, aber lösen konnten und dafür natürlich auch gelobt werden. Für die seelische Entwicklung genauso wichtig: Kinder nicht zu überfordern, aber ihnen auch Aufgaben zuzutrauen und ihnen somit die Erfahrung zu schenken: "Schau mal, ich traue dir zu, dass du diese Aufgabe löst." Durch das Zutrauen der Bindungsperson lernt das Kind allmählich, sich auch selbst Dinge zuzutrauen. Auch dies ist eine sehr wichtige Fähigkeit, um später ein selbstbewusster Erwachsener zu sein. 

Außerdem erkennen wir die sogenannten Basisemotionen wie Ärger, Stolz und Freude, Furcht, Ekel, Wut, Scham und Schuld, Schmerz, Überraschung, Trauer sowie Verachtung.

Die wichtige Aufgabe der Eltern bei seelischen Wachstumsschüben

Die Kinder lernen, ihren Emotionsausdruck als Kommunikationsmittel einzusetzen. Es ist sehr wichtig, die Kinder in dieser Phase zu spiegeln, indem wir sagen: "Oh du bist jetzt richtig wütend. Du wolltest unbedingt den Bagger von Tom haben und er mag ihn für sich behalten. Ich verstehe deinen Ärger. Wollen wir schauen, ob wir etwas anderes finden, womit du deine Burg bauen kannst?"

Empathie und soziales Verhalten lernen Kinder in dieser Phase durch unser Vorbild. Umso wichtiger ist es, sich ausreichend Zeit fürs Spiegeln zu nehmen. Drei- bis Vierjährige beschreiben sich eher, wie sie gerne sein wollen, als wie sie wirklich sind. Die Entwicklung der Frustrationstoleranz und der Fähigkeit zum Belohnungsaufschub stellt eine große Herausforderung dar und braucht Zeit. Eine liebevolle Begleitung durch diese Phase ist sehr wichtig.

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