Geheimes darf nicht geheim bleiben

Wie schütze ich mein Kind vor sexuellem Missbrauch?

Gewalt und sexueller Missbrauch von Kindern haben seit Beginn der Pandemie dramatisch zugenommen. Und das besonders im häuslichen Bereich. Jetzt wurden die schockierenden Zahlen aus dem Jahr 2021 veröffentlicht.

Viele Missbrauchsfälle passieren im häuslichen Umfeld. © Foto: Getty Images/RealPeopleGroup
Viele Missbrauchsfälle passieren im häuslichen Umfeld.

Update 31. Mai 2022: Laut polizielicher Kriminalstatistik, die jetzt veröffentlicht wurde, wurden im Jahr 2021 in Deutschland mehr als 17.700 Kinder (unter 14 Jahren) Opfer von sexualisierter Gewalt. Das entspricht durchschnittlich rund 49 Kindern PRO TAG. Auch im Vorjahr 2020 lag die Zahl mit 16.921 Fällen fast ebenso hoch. Allerdings haben sich die Fälle von Verbreitung, Erwerb oder Besitz kinderpornografischen Materials im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt (von 18.761 im Jahr 2020 auf 36.171 im Jahr 2021).

August 2021: Es ist kaum zu ertragen. Seit Monaten konfrontieren uns Nachrichten zu den bisher größten deutschen Missbrauchsfällen: Ortsnamen stehen für Leid und Fälle mit grausamen Details. Lügde, Bergisch Gladbach, Münster. Im letzten Fall hat das Landgericht Münster vor einigen Wochen vier Männer zu langen Haftstrafen und Sicherungsverwahrung verurteilt. Sie hatten sich im April 2020 in einer Gartenlaube in Münster verabredet, um drei Tage lang zwei kleine Jungen, fünf und zehn Jahre alt, zu vergewaltigen.

Auch wenn wir die Augen und Ohren verschließen möchten bei all diesem Gräuel, müssen wir Eltern uns gerade in diesen Zeiten mit dem Thema sexueller Gewalt gegen Kinder intensiv auseinandersetzen. Denn nur wer versteht, wie perfide Missbrauchstäter agieren, kann Täterstrukturen erkennen – nur wer Anzeichen von Traumata bei Kindern erkennt und wer weiß, wo es Hilfe gibt, der kann Kinder schützen. Im Idealfall vor der Straftat.

Dass ausgerechnet in Nordrhein-Westfalen ein Missbrauchsfall nach dem nächsten auffliegt, ist kein Zufall. Seit Bekanntwerden des Falls Lügde steht das Thema Kampf gegen Kindesmissbrauch und Kinderpornografie auf Platz eins der To-dos der Polizei dort. Die Dringlichkeit ist in Fällen von Kindesmissbrauch jetzt dieselbe wie bei Terror. Doch Strafrichter und Polizei kommen meist erst ins Spiel, wenn es schon zu spät ist, wenn die Kinder ihr Martyrium schon hinter sich haben. Daher muss die Gesellschaft – also Eltern, Erzieher, Lehrer und Initiativen – viel früher ansetzen, um solche Taten zu verhindern. Dazu gehört hinsehen, wachsam sein, sich einmischen. 

Eines müssen wir uns vergegenwärtigen: Gewalt ist nicht die Ausnahme, sondern Alltag. Mehr als 13.000 Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch werden pro Jahr angezeigt, vermeldet der Unabhängige Beauftragte für sexuellen Missbrauch von Kindern. Dazu kommen mehr als 12.000 Fälle von sogenannter Kinderpornografie. Diese Zahlen gehen seit Jahren nicht zurück – das Dunkelfeld ist enorm. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht für Deutschland von einer Million Kindern und Jugendlichen aus, die sexueller Gewalt ausgesetzt sind oder waren.

Sexueller Missbrauch: Fast 1.000 Fälle mehr als im Vorjahr

Das große Problem: Aus Scham, Angst oder Unsicherheit sprechen betroffene Kinder meist nicht darüber. In der Pandemie hat sich dieses Problem mit den Schließungen der Schulen und Kitas noch weiter zugespitzt. Die Folge: Im vergangenen Jahr haben die Jugendämter bei mehr als 60.600 angezeigten Fällen eine Kindeswohlgefährdung festgestellt, das ist ein Anstieg von neun Prozent im Vergleich zum Vorjahr. 16.686 Kinder von ihnen wurden Opfer von sexuellem Missbrauch – das sind 985 mehr als noch 2019.

Die Kinderärztin und Geschäftsführerin der Kinderrechtsorganisation Childhood Deutschland, Dr. Astrid Helling-Bakki, weiß, dass einzelne Krankenhäuser von "mehr Fällen schlimmer gesundheitlicher Schäden in der Pandemie" berichten und dass die Kriminalstatistik sogar mehr Kindstötungen in dieser Zeit aufzeigt. Durch Corona und die damit verbundenen Schutzmaßnahmen fielen neben der Betreuung in Kitas und Schulen, die für viele betroffene Kinder wie ein Schutzraum seien, auch viele weitere Angebote und damit Gelegenheiten weg, in denen sie sich jemandem anvertrauen könnten. Ihr Fazit: Betroffene Kinder sind in der Pandemie nicht aufgefallen, weil "Hilfswege" (Beratung, Meldung von Verdachtsfällen bei Ämtern und Hilfsorganisationen) teils nicht erreicht werden konnten.

Anzeichen und Alarmsignale wurden demnach nicht gesehen: das plötzliche Bauchweh etwa oder Kopfschmerzen, Veränderung der Sauberkeitsentwicklung (wieder Einnässen im Bett) oder auch das Nachspielen des Erlebten. Allerdings: "Eltern dürfen nie den Kindern eine Lüge unterstellen. Papa und Mama müssen offen bleiben und behutsam nachfragen, die Kinder einfach erzählen lassen – auch wenn sie wissen, dass Kinder auch gefallen wollen", so die Expertin Freund. "Alle Antworten auf Fragen sind okay." Oberste Verhaltensregel: nie den möglichen Täter zur Rede stellen. "Und sich nicht kirre machen, erst mal Unterstützung holen", rät Ulli Freund.

Hilfetelefon "Sexueller Missbrauch"
(anonym + kostenlos)
Mo, Mi, Fr 9 bis 14 Uhr; Di, Do 15 bis 20 Uhr
Tel. 0800/22 555 30

Internet: hilfe-portal-missbrauch.de

Jede Anfrage kann auch anonym gestellt werden

Eltern sollten sich bei einem Verdacht – so rät auch Dr. Astrid Helling-Bakki – vor dem Gespräch mit ihren Kleinen "von außen qualifizierten Rat holen", wie und was sie fragen. Ein wichtiger Anlaufpunkt ist dabei das zentrale Hilfetelefon (0800/2255530). Die Anfragen können bei allen Beratungsstellen auch anonym gestellt werden. Übrigens auch bei der Polizei. In der Kita sollte nach einem Schutzkonzept gefragt werden (das seit 2010 jede Einrichtung haben sollte): Darin muss z.B. ein Verhaltenskodex beim Wickeln in der Krippe oder bei Ausflügen ins Schwimmbad geregelt sein. "Wenn es so ein Konzept nicht gibt, können Eltern es einfordern", so Ulli Freund, die Kitas in Präventionsfragen berät. 

Auch wenn die Annahme häufig eine andere ist: Die Statistik zeige, gut 25 Prozent der Missbrauchsfälle finden in der Kernfamilie statt, 50 Prozent im sozialen Umfeld. Dazu gehören der Freundes- und Bekanntenkreis der Familie, die Nachbarschaft. Und dieser im weitesten Sinne "häusliche Bereich" lag in Pandemiezeiten meist völlig im Dunklen. Kein Lehrer, kein Erzieher, kein Kinderarzt konnte in der Quarantäne Anzeichen wahrnehmen, wie es betroffenen Kindern wirklich erging. 

Der beste Schutz ist "präventiv zu erziehen"

Experten wie die Präventionsexpertin Ulli Freund wissen aus jahrelanger Erfahrung: Nur wenige Täter sind den betroffenen Kindern wirklich fremd. Zwar kommt es z. B. über das Internet zu sexuellem Missbrauch durch Fremde, doch auch diese bauen im Vorfeld oft strategisch Beziehungen auf, sodass sie den Kindern zumindest vertraut erscheinen. Für die Diplom-Pädagogin ist der beste Schutz, "präventiv zu erziehen". Kinder müssten wissen, dass sie Selbstbestimmung haben, also z. B. selbst über ihren Körper bestimmen dürfen. Und dass sie die Grenzen ziehen. Falsch sei es, "wenn Erwachsene bestimmen, wann geschmust wird oder nicht akzeptieren, dass Kitzeln dem Kind unangenehm ist". Denn diese Vorerfahrung der Kinder mache es den Tätern leicht, übergriffig zu werden.

Ulli Freund betont noch mal: "Es dürfen im Umfeld der Kinder keine Defizite entstehen." Wenn sie niemals nach ihrem Wohlbefinden gefragt werden, empfinden sie das plötzliche Interesse des Täters oder der Täterin an ihnen quasi als Wertschätzung. "Kinder spüren sehr genau diese geänderte Atmosphäre bei Missbrauchshandlungen – auch wenn sie in Zärtlichkeiten eingebettet sind." Da die meisten Missbrauchstäter sehr geschickt vorgehen, z. B. Geschenke machen und so ein Vertrauensverhältnis aufbauen, seien die Kinder bereit, "auch Stillschweigen und Geheimhaltung durch den handelnden Erwachsenen zu akzeptieren."

So können sich Eltern bei sexuellem Missbrauch verhalten – schon bei einem Verdacht aktiv werden

  1. Aufmerksam sein
    Verschließt Augen und Ohren nicht, sprecht mit Nachbarn oder Menschen, die mit dem Kind, um das ihr euch Sorgen macht, zu tun haben.
  2. Bleibt ruhig
    Zuallererst an das Kind denken – und nie eurem Ärger ungebremst Luft machen. Sprecht den Verdächtigen vorerst nicht an, das kann zu einer Eskalation zulasten des Kindes führen. Es muss geschützt sein, bevor der mögliche Täter davon erfährt. Sonst besteht das Risiko, dass er oder sie das Kind unter Druck setzt. Das gilt leider auch für Menschen aus der eigenen Familie.
  3. Lasst euch beraten
    Ruft als Erstes eine Beratungsstelle an und fragt, was ihr tun könnt. Die Beratung ist kostenfrei und auf Wunsch anonym.
  4. Jugendamt und Polizei anrufen
    Nehmt Kontakt zum örtlichen Jugendamt auf, wenn ihr befürchtet, dass ein Kind akut Opfer wird. Ruft die Polizei an, wenn ihr glaubt, dass Leib und Leben eines Kindes in Gefahr sind.
  5. Macht andere auf Hilfsangebote aufmerksam
    Flyer oder Plakate von den Beratungsstellen können ausgelegt oder aufgehängt werden. Ihr könnt auch Nachbarn, bei denen ihr vermutet, dass es dort familiäre Probleme gibt, einen Flyer in die Hand drücken, z. B. mit der Ausrede: "Ich habe von denen heute so viele bekommen – habe einen über."
  6. Andeutungen ernst nehmen
    Selbst, wenn diese nur sehr vage ausfallen. Viele Kinder machen Andeutungen, um zu sehen, wie der Erwachsene reagiert. Gerade jüngeren Kindern ist es nicht möglich, das Geschehene in Worte zu fassen, die Erwachsene richtig verstehen. Hört auch jenen Kindern zu, die Andeutungen oder Erzählungen von anderen weitergeben.
  7. Vermittelt dem Kind, dass es wichtig ist
    Das Kind soll erzählen, aber es ist auch wichtig, ihm Wertschätzung zu zeigen ("Ich merke, dass es dir nicht gut geht").
  8. Baut Brücken
    Bleibt behutsam, gebt nicht auf. Und schafft Vertrauen – z. B.: "Ich verspreche dir: Ich werde nichts hinter deinem Rücken tun."

 

Autor: Christian Personn

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