
"Oh, das hast du aber schön gemalt ..." Es gibt wohl wenig Sätze, die wir so oft zu unseren Kindern sagen wie diesen. Grob geschätzt malt jeder Mini-Mensch pro Monat 20 bis 50 Bilder. So kommen über die Jahre Tausende Werke zusammen, die angeschaut, gelobt und besprochen werden wollen. Wir haben Kinderkunsttherapeutin Hannah Elsche dazu befragt, was Mamas und Papas zum Thema Kinderzeichnungen wissen müssen.
Mit welchen Stiften sollten Kinder malen?
Wir Eltern lieben Buntstifte, die Kleinen sind meist fasziniert von Filzstiften. Beides nicht ideal, findet Hannah Elsche. "Ich mag die 'Woodys' von Stabilo oder Ölpastellkreide, weil die sehr leicht Spuren hinterlassen." Die Minen von Buntstiften brechen sehr schnell, wenn sie zu oft heruntergefallen sind. Es ist auch anstrengender, damit zu malen. Das sei ab einem gewissen Alter egal, aber bei Kindern, die gerade erst anfangen, gilt: Je weicher, desto besser. "Filzstifte kann ich nicht empfehlen", so die Expertin. "Die gehen kaputt. Meist drücken die Kinder zu fest auf, die Spitze bricht, oder sie malen nicht mehr gut. Das kann zu Frustrationen führen."
Der Anfang aller Künstler: die Kritzelphase
Kinder starten ab etwa einem Jahr in die Kritzelphase. Hier geht es, so die Kunsttherapeutin, "um das selbstwirksame Feststellen, dass ein Material Spuren hinterlässt." Sie dauert, bis die Kinder zweieinhalb bis drei Jahre alt sind. Genauer lässt es sich nicht sagen, denn bei Kinderzeichnungen geht es um Wissensaufbau. Und der ist nicht unbedingt an ein Alter, sondern an Situationen und Lernerfahrungen geknüpft. "Es gibt verschiedene Lernerfahrungen, die in einem bestimmten Alter gemacht werden, und daraus ergibt sich dann etwas Neues. Aber das ist auch individuell und zieht unterschiedliches Verhalten nach sich", so Hannah Elsche.
"Die Kritzelphase ist ganz ungerichtet und das Entstandene für das Kind zunächst einmal bedeutungslos", weiß die Expertin. Die Kinder erfahren, dass sie mit Materialien etwas bewirken können. Es ist mehr ein Experimentieren. Das Einzige, was annähernd abbildhaft sei, ist, dass sie eine Bewegung nachahmen. Manche Kinder machen dann auch Geräusche wie 'brrrrmmm' dazu, wenn sie die Bewegung eines fahrenden Autos aufs Papier malen. Es gehe aber nicht um eine Kontur. "Danach fangen sie an, grafische Elemente zu entwickeln wie Punkte, Spirale oder Bogen. Das hat aber auch noch keine Bedeutung. Für das Kind ist es kein Kreis. Es ist die Entwicklung grafischer Elemente", erklärt die Kunsttherapeutin.
Eltern müssen Kinderzeichnungen nicht deuten
Für uns Eltern heißt das: Unsere Kinder wollen, auch wenn wir das gern glauben, gar keinen Kreis malen, sondern eine Bewegung, ein Kritzel eben. Wir Eltern wollen dem einen Sinn geben und sagen dann vielleicht so was wie: "Oh, da hast du ja einen Kreis gemalt." "Das ist aber nicht das Ziel des Kindes", erklärt Hannah Elsche. "Wenn man das nicht als Kreis kommentiert, dann entdecken die Kinder das in der nächsten Phase ganz allein. Meistens kommt das, wenn sie zu sprechen anfangen." Dann würden sie das ganz allein erkennen.
Aber weil die Eltern das meist schon vorher kommentieren, ahmen die Kinder das nach. Weil sie ihren Eltern gefallen wollen. Es ist verständlich, dass wir Eltern das machen. Wir wollen das Kind ja spiegeln, wir wollen bewusst Aufmerksamkeit auf etwas richten. Aber manchmal ist Zurückhaltung besser: "Wir nehmen unseren Kindern ein bisschen die Entdeckerfreude weg, wenn wir immer alles kommentieren", sagt Hannah Elsche. Übrigens ist auch die Farbwahl in der Kritzelphase zufällig. "Sie ist den Kinder egal und nach Lust und Laune. Da wird keinem Kritzel eine besondere Farbe zugeordnet."
Phase zwei: die Schemaphase
Ab etwa zweieinhalb, drei Jahren kommt die Schemaphase. "Hier geht es nicht um verbales Wissen, sondern um Dinge, die sie erkannt haben. Es gibt erste Abbildungsversuche. Das Kind versucht, Sachverhalte in eine Form zu geben. Visuelle Ähnlichkeit ist hier nicht wichtig", erklärt Elsche. "Es ist auch die Zeit, in der die Kopffüßler auftauchen", sagt die Kunsttherapeutin. Was Kinder in dieser Phase, ganz ohne unser Zutun lernen? Dass jeder Gegenstand Grenzen hat. "Das ist superwichtig", sagt Hannah Elsche, "zum einen, um sich selbst wahrzunehmen, aber auch, um zu verstehen, dass andere Menschen und Gegenstände auch Raum brauchen. Das geht über das eigene Zeichnen hinaus, was sie da verstehen." Größenverhältnisse sind dabei unwichtig, für die Kinder ist eher entscheidend, dass sich nichts überschneidet. Dass also zwei Menschen im Bild nur nebeneinander stehen können – und nicht voreinander.
Kinderzeichnungen aufbewahren
Wenn Kinder dann irgendwann einen künstlerischen Output haben, der eine Bastelmappe nach der anderen füllt, stellt sich irgendwann die Frage, was aufgehoben werden soll – und was nicht. Regelmäßiges Aussortieren ist sinnvoll. Wir können schlicht nicht alles sammeln, und es ist auch nicht nötig. Hannah Elsche rät: "Eltern sollten Kinderkunst nicht von ihrem Standpunkt aus sammeln, sondern von dem der Kinder aus." Am besten, ihr sortiert allein aus und stellt euch dabei folgende Fragen: In welchem Kontext entstand das Bild? Für wen hebe ich das auf? Für mich? Oder für mein Kind? Wann möchte ich die Bilder übergeben? Wenn man die Bilder zum Auszug übergeben will, sortiert ihr anders aus. Natürlich könnt ihr auch alle Bilder digitalisieren und die Originale wegschmeißen. Allerdings, so Elsche, sind Kinderzeichnungen auch immer etwas Haptisches. Wir haben hier zu Hause für jedes Kind eine Mappe, in die meine drei Kinder die Bilder legen, die sie behalten wollen. Wenn die zu voll werden, schaue ich sie durch und sortiere neu. Und die ersten Kopffüßler meiner Kinder, die habe ich mir tatsächlich sogar tätowieren lassen. Kinderkunst für immer, sozusagen.
Was ist mit Ausmalbildern?
Eine Frage, an der sich die Geister scheiden, ist die nach Ausmalbildern. Ja, nein, manchmal? Hannah Elsche findet Ausmalbilder super, wenn die Kinder danach verlangen und sie an keinerlei Bedingungen geknüpft sind. "Wenn Kinder das so gestalten dürfen, wie sie wollen, frei etwas hinzufügen können, ist es vollkommen okay. Klar geht es oft darum, dass Kinder nicht über Grenzen hinwegmalen, aber das machen sie irgendwann von allein. Das muss man nicht fördern. Ausmalbilder müssen nicht Förderung bedeuten. Man kann doch einfach mit dem Kind mitgehen."
Kinderzeichnungen analysieren
Diese Bilder haben die Kinder unserer Autorin gemalt – Kinderkunsttherapeutin Hannah Elsche hat sie sich angeschaut und kommentiert:

"Ein traumhaft schönes Ausmalbild! Mit ganz viel Hingabe, Kreativität und Spuren."

"Da hat ein Kind, offensichtlich schon in der Schemaphase, vieles an einer Figur entdeckt, was ihm als Entdeckung wichtig erschien darzustellen. Die Figur hat betonte Hände, Ohren und ein freundliches Gesicht. Füße und Beine sind gerade mal nicht so wichtig (was überhaupt nicht heißt, dass es nichts damit anfangen kann oder sie nicht zeichnen kann)."

!Die sehr typischen Kopffüßler. Und sehr deutlich, dass sie alle nebeneinander Platz finden (müssen), es sich also um lauter eigenständige Personen handelt. Spannend ist ja auch an den Kopffüßlern, dass nichts Kinder so sehr interessiert wie das Menschliche, und dabei ist eben doch das Gesicht am wichtigsten. Der menschliche Teil, auf den schon Neugeborene geprägt sind."

"Ausprobieren, Experimentieren, Welten erschaffen. Filzstifte sind zwar im Sinne von 'sie gehen schnell kaputt und sind nicht sonderlich nachhaltig' nicht optimal, aber sie schaffen etwas, was Kinder lieben: Sie haben meist leuchtend klare Farben, und weil sie in vielen Familien und in den meisten Kinderläden ein Tabu sind, sind sie für die meisten Kinder eben auch was ganz Besonderes."

"Klassisches Kritzelbild. Spuren hinterlassen, ausprobieren, Bewegungen nachahmen, Welt verstehen."
Autorin: Andrea Zschocher