
"Jetzt reicht’s mir aber!" Kaum jemand macht Eltern so wütend wie die eigenen Kinder. So kommt es immer wieder vor, dass man sich den Kleinen gegenüber so verhält, wie man nie sein wollte. Der Familienalltag wird häufig durch Angst, Verletzlichkeit und andere Stressreaktionen bestimmt. Solche Emotionen sind es auch, die Mama und Papa oft ganz anders als erwünscht reagieren lassen.
Kommunikationstrainerin und Mini-and-me-Bloggerin Jeannine Mik sowie Familienberaterin Sandra Teml-Jetter beschrieben in ihrem Ratgeber "Mama, nicht schreien", wie man gekonnt mit Wut und Impulsivität in der Erziehung umgehen kann. Wie man trotz Stress und starker Gefühle liebevoll bleiben kann. Das Buch mit seinen vielen Refleximpulsen hilft Eltern, zu unterscheiden, wann sie erwachsen denken und wann sie in automatische Muster fallen? Ziel ist es immer, mit Kindern auf Augenhöhe in eine Beziehung zu treten und gemeinsam kommunikative Lösungen zu finden, mit denen alle happy sind.
Warum sind es gerade die eigenen Kinder, die Eltern oft wütend machen?
"Weil sie uns so nahestehen. Sie kennen uns und spüren, wie es uns geht. Manchmal besser, als wir das selbst tun. Unsere Kinder sind auf uns angewiesen, brauchen uns. Entsprechend ist es wichtig für sie, zu wissen, was mit uns los ist. Ihre Gehirne "scannen" uns also permanent – auch, wenn wir gerade nicht bewusst mit ihnen kommunizieren. Kinder lernen auch und vor allem durch Beobachtung, durch Vorleben. Was sie sehen – wie wir etwa mit unangenehmen Gefühlen umgehen, ob sie uns ganz erfassen oder wir sie unterdrücken – nehmen sie an als „so macht man das also."
Was signalisiert uns unsere Wut?
"Natürlich kochen wir manchmal einfach über, wenn wir uns mit einem Zuviel an To-Dos und einem sehr hektischen Alltag konfrontiert sehen. Bringen uns unsere Kinder aber regelmäßig auf die Palme, sollten wir als Eltern genauer hinsehen und uns fragen, warum unsere Kinder das tun: Helfen sie uns womöglich dabei, uns endlich zu entladen? Das lässt sich natürlich nicht pauschal sagen, aber der Blick auf uns selbst und unser Leben lohnt sich und ist für eine bewusste Elternschaft unerlässlich."
Was macht das Schreien oder eine verletzende Bemerkung mit Kindern?
"Schreien an sich ist nichts Negatives, es kann befreiend und wohltuend sein. Es gibt aber einen bedeutenden Unterschied zwischen Schreien und Anschreien: Schreie ich als Ausdruck überkochender Emotionen meine Wut raus oder schreie ich mein Kind an und sage verletzende Dinge? Wir müssen uns darüber bewusst sein, dass Kinder die Worte ihrer Eltern glauben. Sagen wir unserem Kind, dass es dumm ist, dass es nie etwas schafft, dass es eine Belastung ist, so übernimmt es das als Wahrheit. Es wird abgespeichert und prägt sein Bild von sich selbst oft lebenslang."
Kann ich etwas gegen bereits passierte verbale Verletzungen tun?
"Rutscht uns einmal eine verletzende Bemerkung raus, sollten wir uns entschuldigen. Wenn wir es ernst meinen und an uns selbst arbeiten, spüren das unsere Kinder. Verletzen wir unsere Kinder aber immer wieder verbal, sollten wir uns fragen, ob wir diese Dinge wirklich glauben, und warum: Projizieren wir etwa eigene, prägende Erfahrungen auf unser Kind? Oder steht hinter solchen Aussagen Angst, weil wir meinen, unser Kind würde etwas für uns Wünschenswertes nicht erreichen? Das gilt es, sich anzusehen, wenn wir unsere Verantwortung als Eltern wahr- und ernstnehmen wollen. Und: Die beste Entschuldigung ist geändertes Verhalten."
Mit Kindern auf Augenhöhe kommunizieren – geht das überhaupt?
"Natürlich. Und für die meisten Eltern ist es so, dass sie dies erst einmal erlernen dürfen. Oftmals wurde mit uns selbst in der Zeit unseres Großwerdens anders kommuniziert. Es liegt an uns, eine gleichwürdige und wertschätzende Haltung unseren Kindern gegenüber einzunehmen. Diese Art, sich aufeinander zu beziehen, lernen wir nicht von heute auf morgen. Aber wir können uns mutig auf den Prozess einlassen, uns informieren, mit dem Thema Elternschaft bewusst auseinandersetzen. Das ist ein Weg zu gelingenden Beziehungen, wie wir sie uns wünschen."
Welche konkreten Tipps geben Sie Eltern, ihre Impulsivität zu kontrollieren?
"In "Mama, nicht schreien" beleuchten wir beides: Einerseits enthält es viele Impulse, wie wir mit starken Emotionen direkt in der hitzigen Situation besser umgehen können. Andererseits laden wir LeserInnen auch ein, sich ihr Leben, ihren Alltag und ihre Beziehungen bewusst anzusehen und Veränderungen vorzunehmen, wenn diese notwendig sind. Wir nennen das „Lebensinventur“. Denn oftmals sind es in Wahrheit nicht die Kinder, die uns so wütend machen. Sie bringen das Fass vielleicht zum Überlaufen, aber die Wurzel liegt ganz woanders."
Kinder sind Auslöser, nicht Ursache der Wut
In vielen Momenten der Wut lösen Kinder das Aufplatzen aufgestauter Wut aus. Dass das überlaufende Fass allerdings so voll wurde, liegt in deiner Verantwortung. Kinder wollen manchmal einfach die Fassade sprengen, um ihre Eltern zu zwingen, sich zu zeigen. Authentisch zu bleiben heißt dann, der Wut zwar ein Ventil zu geben, ohne die Kinder dabei anzuschreien.
Wenn die emotionale Welle uns überrollt
Der Umgang mit hochkochenden Gefühlen fällt meistens dann schwer, wenn man selber als Kind nicht gelernt hat, mit Stress, Wut, Trauer oder Angst umzugehen. Wenn sich auf eine ohnehin schon spannungsbeladene Situation noch etwas "draufsetzt", ist Schluss mit der Selbstregulation. Den Autorinnen nach greift dann ein Automatismus: eine emotionale Welle überrollt uns wie ein Tsunami, dass wir uns fragen, was da gerade passiert ist.
Die eigene Wut spüren und erkennen
Wer sich nach dieser hochemotionalen Welle wieder sammeln kann, durchatmet und bewusst spürt, kann seine Wut lenken und den eigenen Erkenntnisprozess selbst gestalten. Wenn es dir gelingt, trotz der starken Gefühle bei dir selbst zu bleiben, ist es möglich, mutig auf der Welle zu surfen. So kannst du dich angstfrei als Liebe und Sicherheit gebenden Leuchtturm wahrnehmen.
Wer bewusst leben will, muss selbst gestalten
"Es ist schwer, dem eigenen Kind bei Stress liebevoll zu begegnen, wenn dein inneres Kind noch lauter schreit." Jeannine Mik und Sandra Teml-Jetter geben konkrete Denkanstöße: Nicht dein Kind muss sich verändern, sondern du. Mag ich mich gerade? Wie will ich sein? Gehe ich in die richtige Richtung? Was soll meine Wut zeigen? Statt vorgefertigter Antworten laden die Expertinnen ein, sich ganzheitlich zu erforschen und zu reflektieren. Ich muss die Muster erkennen und mich dazu entschließen, es besser zu machen. Das Ziel ist ein "lösungsorientiertes, friedvolles, von Vertrauen geprägtes neues Handeln", das in meine Familie von heute passt. Wer Selbstverantwortung übernimmt, kann Kindern auf Augenhöhe begegnen und dabei authentische, von Liebe geprägte Beziehungen leben.
Geht es dir gut – geht es deinem Kind gut
Jeder hat sein ICH, jeder hat seine Grenze und ist für sich selbst verantwortlich. Akzeptiere dein Kind als eigenständigen Menschen und lass deine Erwartungen los. Nur, wenn es dir gutgeht, kann es auch deinem Kind gutgehen. Es ist lebenswichtig, dass du mit dir und deinem Körper achtsam umgehst und dein persönliches Wohlergehen priorisierst. Denk immer an die Sauerstoffmaske im Flugzeug, die du im Ernstfall zuerst dir selber anlegen musst, um deinem Kind helfen zu können.
Wann muss ich mir Hilfe holen?
Wenn du in deinem Prozess feststeckst und wenn es dir zu viel wird. Wenn du alleine nicht weiterkommst, hol dir professionelle Hilfe durch einen Coach. Das ist kein Eingeständnis von Schwäche. Alles, was dich entlastet und zur Entspannung beiträgt, kann nur stärker machen.
Autorin: Antonia Müller
Das Buch

Das Buch "Mama, nicht schreien! Liebevoll bleiben bei Stress, Wut und starken Gefühlen"* (ca 16 Euro, z.B. via Amazon) erschien 2019 im Kösel Verlag und hat sich als ein Klassiker unter den Elternratgebern etabliert.