
Ich erkenne sofort, was meine Tochter gemalt hat: Die Katze hat vier Beine, spitze Ohren und sogar Schnurrhaare. Gut, sie ist blau-grün angemalt, eine eher ungewöhnliche Farbgebung in der Tierwelt – aber dass es eine Katze ist, ist trotzdem eindeutig. Und die Proportionen stimmen sogar! In Anbetracht der Tatsache, dass die Künstlerin erst fünf Jahre alt ist, finde ich das einfach klasse. Also sage ich das auch: "Die Katze ist RICHTIG gut, ich finde die voll toll! Willst du noch eine malen? Eine Freundin für diese Katze?" Strahlend zieht meine Tochter ab in ihr Kinderzimmer und macht sich an das nächste Werk. Sie ist glücklich, ich bin glücklich – alles ist wundervoll.
Macht Lob süchtig?
Alles ist wundervoll? Nicht ganz: Etwas rattert in mir. Eine Erinnerung an einen Artikel, den ich zum Thema "Kinder loben" gelesen habe. Oder genauer gesagt: eine Erinnerung an die vielen verschiedene Artikel. Denn ehrlicherweise begegnet mir das Thema zurzeit immer wieder: Expertinnen und Experten raten uns Eltern, viel sparsamer mit unserem Lob umzugehen. Nicht jeden absolvierten Rutschvorgang, jedes ausgedachte Kunststück und erst recht nicht jedes einzelne gemalte Bild als "super" abzustempeln. Denn wer gelobt wird, der will beim nächsten Mal wieder gelobt werden. Und stürzt schnell in eine Krise, wenn das gewohnte und erwartete Lob irgendwann ausbleibt. Ja, Lob macht süchtig. Und sicher irgendwann auch arrogant. Schon 2005 schrieb Familientherapeut Jesper Juul in seinem Buch "Aus Erziehung wird Beziehung", dass ständiges Loben nicht das Selbstbewusstsein stärke, sondern "aufgeblasene Egos" produziere. Autsch.
Irgendwie habe ich es aber in acht Jahren Elternschaft hinbekommen, diese warnenden Hinweise zu ignorieren. Nein, ich lobe meine Tochter nicht, wenn sie ein paar krakelige Kritzeleien aufs Papier schmiert. Aber wenn sie mit ihren fünf Jahren eine schöne Katze malt, die auch wirklich wie eine Katze aussieht und nicht wie ein Gremlin nach Mitternacht, dann finde ich das einfach mega – und sage ihr das auch genauso. Was sollte ich denn sonst sagen?
Beschreiben statt Loben. Klappt das?
Statt das Bild sofort in den Himmel zu loben, sollten Eltern beschreiben, was sie sehen, lautet der Rat der Experten. Als meine Tochter also erneut mit dem Bild und Katze Nummer 2 darauf zurück zu mir kommt, probiere ich es aus: "Jetzt hast du noch eine Katze gemalt!", sage ich zu meiner Tochter. "Sie hat auch vier Beine, und spitze Ohren, und sie lacht! Und sie ist ein bisschen kleiner als die andere Katze."
Meine Tochter und ich starren einander an. Meine Güte, fühlt sich das beknackt an. Wir wissen in diesem Moment beide, dass es das nicht gewesen sein kann. Auch mein Bauchgefühl meldet alarmierendes Unwohlsein. Ich frage mich, wie bescheuert ich selbst mich fühlen würde, wenn zum Beispiel mein Trainer mir statt eines lauten "Klasse, Silke, das war stark!" einfach nur zurufen würde "Ich habe gesehen, dass du zehn Liegestütz gemacht hast! Und zwanzig Kniebeugen!". Oder wenn ich einen Text für leben-und-erziehen.de einreiche und die zuständige Redakteurin mir schreibt: "Ich sehe, du hast Buchstaben benutzt und daraus Worte und Sätze formuliert. Dein Text ist zwei Seiten lang." Bekomme ich aber die Rückmeldung: "Hey Silke, schöner Text, gefällt mir richtig gut, danke!", dann freue ich mich, und zwar aus tiefster Seele.
Ich will gelobt werden – also lobe ich!
Versteht mich nicht falsch: Wenn der Text mittelmäßig oder gar langweilig ist, muss mir niemand was anderes erzählen. Aber genauso würde ich ja auch meine Tochter nicht für eine Katze feiern, die aussieht wie ein tollwütiges Eichhörnchen – sondern eben nur für eine schöne Katze. Und diese hier, die ist schön. Richtig schön sogar. Und weil es sich einfach falsch anfühlt, es nicht auszusprechen, sage ich meiner Tochter jetzt genau das: "Die zweite Katze ist auch richtig toll. Weißt du was? Du kannst tolle Katzen malen! Du bist eine richtig gute Katzen-Malerin. Und das finde ich super."
Meine Tochter strahlt stolz. (Sie malte nach diesen beiden übrigens noch vier weitere Katzen.) Und ich strahle jetzt auch. Und bin selbst überrascht, dass ich mich ausnahmsweise traue, nicht auf die Experten zu hören – sondern einfach meinem Bauchgefühl als Mama vertraue. Ob es die richtige Entscheidung war, werde ich sicher eines Tages in einem Artikel berichten. Und für den möchte ich dann bitte von euch allen ganz doll gelobt werden.