
Aufgeregt wie kurz vor Weihnachten wedelt mein Sohn mit einem Zettel vor meiner Nase herum: "Mama, hier ist mein Wunschzettel für die Schule!" Auf diesem "Wunschzettel" darf jedes Kind eintragen, mit wem er oder sie gemeinsam in die erste Klasse kommen will. Für die Fünf- und Sechsjährigen in unserem gesamten Umfeld gab es, vor der Einschulung, kaum eine spannendere Frage als die, ob man in die 1a, 1b oder 1c kommen würde – und: mit wem! Auf dem Wunschzettel meines Sohnes lese ich nun in der krakeligen Schrift eines Schreibanfängers nur drei Buchstaben: BEN.
"Ben ist jetzt mein Freund."
Ausgerechnet Ben? Der Ben, der das Hauptthema auf dem letzten Vorschul-Elternabend war? Der den Hausschuh von Lukas in die Toilette geworfen hat? Der meinem eigenen Sohn die Pokémon-Karten gestohlen hat? Und wegen dem unser Sohn nicht nur an diesem Tag bittere Tränen vergossen hat? Ich begreife es nicht. "Ben ist jetzt mein Freund", erklärt mein Sohn. Ich frage mich, ob Ben das genauso sieht. Und spüre einen dunklen Gedanken in mir aufsteigen: Ich könnte den Wunschzettel meines Sohnes problemlos manipulieren. Und es später auf die doofen Lehrer schieben, die seinen Wunsch nicht berücksichtigt haben.
Wenn der gute Wille zu weit geht
"Eltern streben natürlich eine positive Entwicklung ihrer Kinder an", weiß Schulpädagoge Stefan Ostermaier. "Aus Angst vor negativen Einflüssen oder in der Hoffnung, Vorteile aus den Freundschaften der Kinder zu ziehen, mischen sich manche Eltern ein." So hat es meine Mutter in der 5. Klasse bei mir getan (als sie mir verboten hat, Julia und Jenny zu meiner Pyjama-Party einzuladen – was war ich sauer!). Und nun bin ich bereit, dasselbe zu tun. Und das noch vor dem allerersten Schultag meines Sohnes.
Doch der Experte warnt: "Der gute Wille der Eltern – so nachvollziehbar er im Grundsatz ist – geht zu weit, wenn Freundschaften verboten oder stark eingeschränkt werden." Dabei steht laut Stefan Ostermaier im schlechtesten Fall die gute Eltern-Kind-Beziehung auf dem Spiel: "Verbote führen zu Reizen und Reize verlagern Probleme. Treffen sich die Kinder heimlich und belügen die Eltern, bahnen sich Vertrauensverluste an." Sein Plädoyer lautet daher: "Kinder brauchen Regeln, keine pauschalen Verbote."
Kinder müssen auch negative Erfahrungen machen
An ein Verbot hatte ich gar nicht gedacht. Eher an eine praktische Beeinflussung: Durch die Trennung in eine Parallelklasse verbringt unser Sohn automatisch weniger Zeit mit Ben. Und ich kann ihm vermutlich viele Tränen und Enttäuschungen ersparen. Doch Stefan Ostermaier warnt davor, die eigenen Kinder vor allen negativen Erlebnissen zu schützen: "Kinder treffen im Leben unterschiedliche und stellenweise schwierige Charaktere. Sie müssen lernen, herausfordernde Situationen aus eigener Kraft zu bewältigen. Dazu machen Kinder Erfahrungen, auch negative, selbst und lernen daraus."
Selbstverständlich sollen die Eltern dabei unterstützend zur Seite stehen. Entscheidend sind laut dem Schulpädagogen Vertrauen, Stabilität und Kommunikation. "Sätze wie 'Ich hab’s dir ja gesagt' nützen niemandem", betont der dreifache Vater. Eltern sollten ihrem Kind stattdessen Halt und Liebe geben und es trösten, wenn es Trost braucht. Und sie sollen ihre Meinung zu Freundschaften und neuen Bekanntschaften äußern – wenn sie danach gefragt werden. "So lernen Kinder selbst, gute von schlechten Freunden zu unterscheiden", erklärt Stefan Ostermaier. Und ergänzt: "Wer weiß, womöglich stellt sich der vermeintlich falsche Freund ja als echter Glücksfall heraus."
Schnelle Wege lösen nicht das Problem
Wir gaben uns also einen Ruck – und den Wunschzettel unverändert im Sekretariat ab. Doch die Vorschullehrerin unseres Sohnes sah wenig Chancen für eine positive Entwicklung zwischen Ben und ihm. Nicht als Freundschaft, sondern als Abhängigkeit bezeichnete sie die Beziehung der beiden. Dabei benutzte sie das Wort "toxisch". Mir wurde schlecht. Und das Gefühl, das Richtige getan zu haben wich einem anderen: Panik. Noch am selben Tag korrigierte den Wunschzettel. Über die liebevoll gekrakelten Buchstaben B, E und N schrieb ich in Rot "Auf keinen Fall mit". Mir fiel ein Stein vom Herzen.
Stefan Ostermaier sieht meine Panikreaktion kritisch: "Die Trennung von Kindern mag als eine wirksame und schnelle Lösung erscheinen. Die Ursache des Problems behebt sie jedoch nicht. Das Problem besteht an einem anderen Ort fort – auf dem Pausenhof etwa."
Vertrauen statt Verbote
Wie aber kann ich mein Kind vor falschen Freunden und toxischen Beziehungen schützen, wenn Trennung und strikte Verbote nicht der richtige Weg sind? Auch hier empfiehlt der Experte, die Kinder eigene Erfahrungen machen zu lassen: "Kinder reifen mit der Zeit und mit der Freiheit, Fehler zu machen, zu selbstständigen und selbstbewussten Persönlichkeiten heran. Selbstsichere, stabile und sich geliebt fühlende Kinder fallen nicht so schnell auf vermeintliche Freunde herein, die ihnen nicht guttun." Die wichtigsten Pfeiler dafür: Vertrauen zu und eine gute Kommunikation mit den Eltern: "Ein offenes und vertrauensvolles Gespräch ist effektiver als jedes Verbot und schont das Verhältnis von Eltern und Kind", so der Schulpädagoge. Sein Tipp: "Fragen Sie, was ihre Kinder an eben diesen Freunden mögen." Kinder öffnen sich so den Eltern und gehen auf diese Weise eher auf Ratschläge ein. "Eltern bekommen einen Einblick in die Gefühlswelt ihrer Kinder, verstehen die Gründe für diese und jene Freundschaft."
Kinder lernen dazu. Eltern auch
Das Fazit unseres Experten ist eindeutiger, als es mir lieb ist: Statt in die Freundschaften der Kinder einzugreifen oder diese gar zu verbieten, sollten wir Eltern uns darauf konzentrieren, unsere Kinder zu selbstbestimmten Persönlichkeiten zu erziehen.
Unser Sohn ist mittlerweile eingeschult. Dass er nicht mit Ben in eine Klasse gekommen ist, hat ihn nicht gestört. Im Gegenteil: "Ich glaube, Ben ist kein richtiger Freund, sondern ein unechter", sinnierte er bereits Wochen vor der Einschulung. Wir waren nicht nur erleichtert, sondern zutiefst beeindruckt von den Gedankengängen unseres Sechsjährigen. Und nehmen uns vor, ihn künftig häufiger seine eigenen Erfahrungen machen zu lassen.