Mehr ist mehr

Deshalb dürfen meine Kinder so viel Spielzeug haben

Minimalismus? Das ist ein Fremdwort für die Kinder unserer Autorin. Sie haben viel Spielzeug. SEHR viel Spielzeug. Und nein, das ist nicht alles pädagogisch wertvoll. Schuld sind natürlich die Eltern. Aber ein Grund zum Schämen ist das nicht, findet unsere Autorin. Hier erklärt sie, warum.

Mehr ist manchmal eben doch einfach mehr. © Foto: Getty Images/Cavan Images
Mehr ist manchmal eben doch einfach mehr.

Ich stehe im Kinderzimmer meiner Tochter und sehe den Boden vor lauter Spielzeug nicht. Und das ist leider keine Metapher wie der Spruch mit dem Wald und den Bäumen. Ich kann in diesem Moment tatsächlich kein Stück des Fußbodens erkennen, der sich unter dem Chaos aus Spielsachen, Stofftieren und kleinsten Kleinigkeiten befindet. Zwischen Murmeln und Bügelperlen, Knetresten und Papierschnipseln, Pappkartons und Puppenkleidung, Stofftüchern, Picknicktellern, Lego-Ninjas und Paw-Patrol-Hunden lässt sich der plüschige Spielteppich darunter nur noch erahnen. Ein Durchkommen auf den aufgedruckten Straßen ist für Schäferhund Chase in seinem blinkenden Polizeiauto jedoch genauso unmöglich wie für meine Größe-40-Füße.

Die Unordnung haben sie von uns. Den vielen Kram auch. 

Es ist aber nicht das Chaos an sich, das mich in diesem Moment überwältigt. Kinder schauen sich so gut wie alles von ihren Eltern ab – und dazu gehört ganz sicher auch das Thema Aufräumen. Von wem hätten die beiden das Ordnunghalten denn lernen sollen? Gewiss nicht von ihrer Mutter, die die Winterhandschuhe in derselben Schublade aufhebt wie die Steuerunterlagen von 2013 bis 2018. Und ganz sicher nicht von ihrem Vater, eine Art Anti-Marie-Kondo, der sich von nichts trennen kann, nicht einmal von eingelösten Kinokarten oder Eintrittsarmbändchen, und diese Dinge in unserer Wohnung verteilt wie Streusalz.
Nein, die Unordnung stört mich gar nicht mal so sehr. Ich bin nur immer wieder schockiert über die schiere Menge an Gegenständen, die sich mittlerweile in den beiden Kinderzimmern angesammelt hat. Denn: Um einen Fußboden vollständig mit Spielsachen zu bedecken, benötigt man auch erst einmal eine ausreichende Menge davon. Und keine Frage: Die ist bei uns vorhanden – denn nicht nur die Kinder, auch wir Eltern sind ziemlich gut darin, die Spielzeugberge anzufüllen.

Das ist kein Schrott. Das sind Wertstoffe.

Bevor hier der falsche Eindruck entsteht: Das hier ist kein "Schaut mich an, wir sind so wohlhabend, dass wir uns ganz viel Kram leisten können"-Text. Denn in den Zimmern meiner Kinder lauern keine Reichtümer, oh nein. Leider – denn würde es sich um hochwertiges Spielzeug handeln, könnte man das zumindest eines Tages noch zu Geld machen.
Nein, der Großteil der "Schätze" in den Zimmern meiner Kinder ist das, was meine Oma früher als "Plunder" bezeichnet hätte. Mitbringsel von der Arbeit. Tüdelkram vom Flohmarkt. Schnickschnack aus der Happy-Meal-Tüte. Müllähnliche Kleinteile und Werbegeschenke, die einem zu peinlich wären, um sie auf dem Flohmarkt zu verkaufen, sollten sich die Kinder doch einmal von ihnen trennen wollen.  Wollen sie aber gar nicht. Und genau das ist der Punkt.

Murmel-Nudeln und Knete-Kuchen

Für meine Kinder ist nichts an diesem gewaltigen Chaos müllähnlich. Für sie ist es noch nicht einmal Chaos. Ich bleibe mal beispielhaft im Zimmer meiner Tochter (beim Sohn gibt es immerhin noch ein Labyrinth-ähnliches Wegesystem auf dem Fußboden, das von der Tür zum Bett und zum Schreibtisch führt). Ihr erinnert euch an die Murmeln und Bügelperlen, die ich aufgezählt habe? Die liegen verteilt auf den Puppentellern, die wiederrum auf den Stoffresten liegen. In der Welt meiner Tochter sind die Stoffreste nämlich kleine Tischdecken, und die Murmeln und Bügelperlen die Nudeln mit Soße, die sie gerade ihren Kuscheltieren in der selbstgebauten Kita serviert. Diese Kita wiederrum besteht aus verschiedenen Pappkartons. Und natürlich gibt es in einer Kita jede Menge Spielsachen und: "Man, Mama, die Kuscheltier-Kinder haben heute eben noch nicht aufgeräumt, deshalb sieht es hier so aus!"

Die Papierschnipsel liegen übrigens herum, weil Teddy (das jüngste der Kuscheltiere) heute endlich eins geworden ist und alle zur Feier des Tages mit selbstgebasteltem Konfetti geworfen haben. Und gerade habe ich zwar vergessen, welche Funktion die Knete hatte, aber auch die war irgendwie wichtig. Farblich sortiert ist sie angerichtet auf einer Frisbeescheibe mit dem Aufdruck "Autohaus Wuttke". Würde ich nun also tatsächlich auf die Idee kommen, die ausgetrockneten Knetereste und die hässliche Frisbee, die ich selbst irgendwann mal angeschleppt habe, auszusortieren, würde ich nicht einfach nur alte Knete und eine Plastikscheibe entsorgen, oh nein: Ich würde den Kuscheltierkinder vermutlich ihren Fantasie-Nachtisch oder gar Teddys Geburtstagskuchen stehlen. Wie sollte ich das übers Herz bringen?

Jedes Teil ist wichtig, jedes Teil ist wertvoll.

Nein, nichts von den Dingen, die hier den Weg durchs Zimmer versperren, darf entnommen werden – das würde die fünfjährige Herrscherin über das Spielzeugchaos auch sofort spüren. Denn so klein und nichtig die unendlichen Kleinigkeiten in ihrem Zimmer für mich Erwachsene auch sein mögen: Für sie haben sie einen ganz anderen Wert.
Neulich habe ich es wieder einmal probiert und wollte ein (wirklich hässliches, ich schwöre!) Billigstofftier entsorgen. "Mit dem Clown hier spielst du doch wirklich nie, der kann doch weg, oder?" Aufgerissene Augen blickten mich traurig an: "Aber Mama! Den hast du mir doch geschenkt, als wir das erste Mal zusammen mit dem Zug in den Urlaub gefahren sind!" Hoppla – stimmt ja, jetzt fällt es mir auch wieder ein. Jetzt tut er mir leid, der kleine hässliche Clown, natürlich behalten wir den. Und den ganzen anderen Krempel auch. Denn solange sich meine Kinder so großartig mit diesem Berg an Dingen beschäftigen können, solange Bügelperlen in ihrer Fantasie zu Pasta werden und Pappkartons zu ganzen Gebäuden, und solange sie hinter jedem einzelnen kleinen Teilchen in ihrem Besitz noch eine Geschichte kennen, werde ich mich hüten, ihnen irgendetwas davon wegzunehmen.
Solange, bis sie den Kram selbst nicht mehr sehen können. Und dann packe ich gern mit an und sortiere mich mit Mülltüten bewaffnet durch ihre angesammelten Schätze. Aber bis es soweit ist, akzeptiere ich den Gedanken, dass Mehr manchmal eben doch einfach mehr ist.

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