
Möglicherweise verstoße ich gegen einen geheimen Eltern-Ehrenkodex, wenn ich das hier laut ausspreche, aber: Ich. Hasse. Rollenspiele. Okay, das ist vielleicht ein wenig übertrieben, aber ich sehne mich wirklich mal nach einem Tag, an dem ich einfach ich selbst bleiben darf – oder zumindest nur eine einzige Rolle einnehme. Noch vor sechs Monaten wäre mir dieser Satz niemals über die Lippen gekommen, im Gegenteil – zu Weihnachten hatten wir unserer Tochter sogar noch einen prall gefüllten Verkleidungskoffer vor die Nase gesetzt. Schließlich sind fantasievolle Rollenspiele ja total gut und wichtig für die Entwicklung unserer Kleinen.
Doch nun stecken wir mittendrin. Kaum ein Morgen vergeht, an dem ich nicht unter Gebell in unserer Hundehütte (aka Bettdecke) aufwache: "Mama, du bist Chase und ich bin Rocky!" Hm, ja ... guten Morgen, mein Schatz. Unsere Rollen wechseln wir bis zum Abend häufiger als Windeln: Gefrühstückt wird in Tüll und Glitzer als Anna und Elsa, bevor es unter wildem Löwengebrüll als Simba, Nala und Sarabi ins Wohnzimmer geht. Im Garten eilen wir als Sam und Penny von einem Einsatz zum nächsten, um am Ende des Tages wieder mit Zuma, Marshall, Sky & Co. in Ryders Zentrale zu landen. Und ja, es kommt vor, dass die letzten Nudeln vom Teller nur als "Leckerli" in die Schnauze unserer am Boden winselnden Everest wandern.
Während dieses Lockdowns verging so mancher Tag, an dem wir Eltern uns schwer konzentrieren mussten, um uns noch an unsere richtigen Namen zu erinnern. Ich mache drei Kreuze, dass wir unser Kind nun wieder an einigen Tagen in die Kita bringen dürfen, wo ihre Freundin mindestens genauso enthusiastisch in die verschiedenen Charaktere aus "Paw Patrol" und "König der Löwen" wechselt.
Wenn zwischen "Mama, du bist Zuma!" und "Jetzt bist du Simba." keine fünf Minuten vergehen, versuche ich mich an den Satz von Prof. Dr. Kaiser aus unserem Artikel "Warum Rollenspiele für Kinder so wichtig sind" zu erinnern: "Kinder nehmen wahr, dass ihr Spiel anerkannt wird und dass sich die Eltern dafür interessieren, womit sie sich beschäftigen." Also Augen zu und durch – es ist, wie so vieles, nur eine Phase.
Rollenspiele sind ja auch nicht NUR nervig, sondern verblüffen mich auch immer wieder. Oft kann ich kaum glauben, wie detailliert sich meine Tochter an die gehörten oder gesehenen Geschichten erinnert und später nachspielt. Dabei ist es völlig egal, ob sie das Ganze bei Youtube gesehen oder nur das Hörspiel gehört hat. Ja, Anna und Elsa kannte sie sogar lange Zeit nur aus den Erzählungen im Kindergarten.
Sätze wie "Die Weltraumbasis war eine super Idee, ich bin ein Genie!" hat sie sich natürlich aus einer der Folgen gemerkt – allein das finde ich schon echt beeindruckend. Doch immer wieder erlebe ich, wie sie diese komplexen, neu kennengelernten Wörter und Satzkonstruktionen in ihren eigenen Sprachgebrauch integriert und abwandelt. Da soll noch mal jemand sagen, Fernsehen mache dumm. Auch spannend: Egal, welche Probleme ich ihr aufzeige (Käpt'n Tollpatsch ist in der Bucht gekentert, ein dicker Felsen versperrt uns den Weg zum Mittagessen, usw.) – sie findet immer eine kreative Lösung oder das passende Werkzeug. Eben doch ein kleines Genie!
Aus einer nicht-repräsentativen Umfrage unter Freunden weiß ich, dass es nicht nur mir so geht und viele Eltern keine Lust auf stunden- bis wochenlange Rollenspiele haben. Aber in einer Sache sind wir uns alle einig: Mitmachen ist Pflicht. Wenn ihr Glück habt, dürft ihr ja vielleicht mal selbst bestimmen, wer ihr sein wollt ...