Die Welt als Bühne

Warum Rollenspiele für Kinder so wichtig sind

Einmal jemand anderes sein: Für Kinder gehören Rollenspiele zu den schönsten Spielen überhaupt. Das ist meist süß anzuschauen – und gleichzeitig ein wichtiges Entwicklungsinstrument, das Eltern aktiv begleiten können.

Kinder schlüpfen gerne in verschiedene Rollen.© Foto: Getty Images/Ulf Huett Nilsson
Kinder schlüpfen gerne in verschiedene Rollen.

Luisa, knapp 3, und ihre Freundin Charlotte gehen heute mal einkaufen – natürlich nur im Spiel. Luisa fährt den Kinderwagen, drin ist ihre Puppe, die das Baby darstellt, und Charlotte spielt den Familienhund und krabbelt auf allen Vieren neben ihr. Im "Geschäft" kauft Luisa dann ganz professionell kleine Pappschachteln, und Charlotte hechelt und stupst Luisa an...

Rollenspiel ist soziales Spiel

Drei Jahre ist das typische Alter, in dem Kinder ihre Umgebung als Bühne für eine unendliche Phantasiewelt nutzen, in der sie die Rollen der Eltern, verschiedener Berufe oder von Phantasiegestalten annehmen. Das Rollenspiel ist aber nicht etwas, was plötzlich völlig neu hinzukommt – tatsächlich haben die Kinder sozusagen schon vom Babyalter an darauf hingearbeitet. "In den frühen Spielformen bauen Kinder die Kompetenzen auf, die sie im Rollenspiel brauchen“, erklärt Lena S. Kaiser, Professorin für Kindheitswissenschaften an der Hochschule Emden/Leer: "Im ersten Lebensjahr entdecken sie zunächst ihren eigenen Körper, und bald spielen sie auch mit Objekten. Beim Parallelspiel wird dann sehr interessant, was andere Kinder in der Nähe tun, und schon bei ganz einfachen Bewegungsspielen wie Wegrennen und Fangen lernen Kinder, sich zu verständigen und gemeinsame Regeln aufzustellen.“

Rollenspiel ist soziales Spiel – ohne andere Kinder macht es einfach weniger Spaß. Wie bei Konstruktionsspielen, sind Kinder dabei selten allein, sondern holen sich Verstärkung bei Gleichaltrigen, Geschwistern oder auch den Eltern. Sich miteinander verständigen? Kein Problem: Denn das geht auch ohne Sprache. Wenn dann noch die sprachlichen Kompetenzen hinzukommen, wird es schnell sehr viel komplexer.

Natürlich können zum Rollenspiel auch Herumrasen oder der Bau einer tollen Wohnhöhle gehören, aber so etwas wird immer mehr Mittel zum Zweck – weil diese Aktivitäten eben zur Rolle passen müssen. Verkleiden gehört oft dazu. Ein Kostüm – und sei es auch nur ein zum Umhang ernanntes Handtuch oder ein Haarreif, der zum Krönchen wird – unterstützt es, sich in eine Rolle hineinzuversetzen. Für die Expertin sind Phantasierollen, mit denen sich Kinder in fiktive Welten versetzen, "besondere Entwicklungsmomente und Entwicklungsmotoren“. Denn diese erfundenen Welten zu organisieren und im wahrsten Sinne des Wortes seine eigene Rolle darin zu finden, bietet noch ganz andere Möglichkeiten und Herausforderungen, mit den Dingen zu spielen: "Das geht über die Reproduktion von Alltagswelten hinaus. Wenn Kinder sich eine Wirklichkeit nach eigenen Regeln entwerfen, sind die Rollenskripte sind nicht mehr so klar, als wenn sie einfach 'Familie' spielen. Das heißt, sie entwerfen für ihre Figuren ganz neue Handlungsmuster und stimmen diese untereinander ab.“

Die Kinder erbringen so – ganz nebenbei – ein tolle Transferleistung. Ihre Alltagserfahrungen sind gewissermaßen das Sprungbrett, um Handlungskonzepte in ganz neuen Situationen auszuprobieren: je nach Rolle etwa beim Hofball, beim Großbrand, beim großen Pokalfinale oder beim Füttern des Haustiers... "Ich-Erweiterung“ nennt das etwa der Passauer Psychologieprofessor Hans Mogel – und der Begriff deutet schon den Nutzen an: Man lernt dazu, man vergrößert seine Reichweite.

Eltern dürfen bei Rollenspielen gerne aktiv mitmachen

Wie auch immer die aktuelle Spielwelt aussieht: Eltern können die Rollenspiele auf vielfältige Weise im Alltag unterstützen – und zwar ganz ohne großen Aufwand. Eigentlich braucht man nur zwei Dinge: etwas Platz und Utensilien, die sich vielfältig einsetzen lassen. Beispielsweise ein großes Tuch: das kann eine Höhle werden, es kann aber auch genauso gut ein Umhang, ein Zelt oder ein fliegender Teppich sein. "Ideal“, so Lena S. Kaiser, "sind Dinge, die bedeutungs- und verwendungsoffen sind, und dabei sind Alltagsutensilien – vom ausgetragenen Stöckelschuh bis zu Accessoires wie Ketten – noch besser geeignet als vorgefertigtes Spielzeug“ (was ja immer schon einen bestimmten Spiel-Zweck vorgibt).

Die Unterstützung durch die Eltern hat aber auch einen handfesten psychologischen Effekt, wie Professorin Kaiser erklärt: "Kinder nehmen wahr, dass ihr Spiel anerkannt wird und dass sich die Eltern dafür interessieren, womit sie sich beschäftigen.“
Und natürlich können die Eltern, wenn die Kinder sie auffordern, sich auch ins Spiel einbinden lassen: in den zugewiesenen Rollen und mit den Regeln, die das Kind für das Spiel aufstellt. Denn auch wenn Kinder gute Entwickler von Spielen sind und es auch alleine hinbekommen, gilt doch gerade für kleinere Kinder, "dass Bindung und Exploration ganz eng miteinander zusammen hängen“, so Lena S. Kaiser. Das heißt: Je sicherer und geborgener sich das Kind in seiner familiären Situation fühlt, desto eher ist es auch bereit, sich über das Gewohnte hinaus zu wagen – etwa in einer Rolle, in der es groß und stark und furchtlos ist.

Dabei schlägt Lena S. Kaiser vor, dass Eltern, die der Einladung mitzuspielen folgen, nicht nur mit dem eigenen Handlungsrepertoire einsteigen, sondern sich vom Kind als Regieleitung inspirieren lassen, also zum Beispiel fragen: Wen spiele ich? Bin ich eine mutige Katze oder ein kleiner Bruder mit magischen Fähigkeiten?

Für Kinde ist das Tolle (ohne dass sie es ahnen), dass sie im Rollenspiel Empathie lernen. Indem sie sich in einen anderen – ihre Rolle – hineinversetzen, erproben sie soziale Verhaltensweisen. Für die Eltern ist das Rollenspiel die perfekte Gelegenheit zu erfahren, was für Themen ihr Kind gerade beschäftigen. Lena S. Kaiser beschreibt es so: "Es sagt uns, dass das Kind eine Erfahrung gemacht hat, etwas verstanden hat. Dahinter steckt immer eine Entwicklungsleistung. So wird das Implizite explizit gemacht, indem das Kind so Erfahrungen weiterverarbeitet, neu inszeniert und damit zum Ausdruck bringt.“

Klar ist auch: Im Spiel werden nicht nur die fröhlichen Momente verarbeitet. Auch Ängste, innere Konflikten oder Konflikte in der Familie können im Rollenspiel auftauchen. Allerdings sollte das Eltern, so sagt es Lena S. Kaiser mit Entschiedenheit, "nicht dazu verleiten, dem Thema mit dem Blick der Sorge zu begegnen. Kinder spielen nach, was sie erlebt haben, aber sie suchen dabei eben auch gleich nach Lösungswegen. Auch wenn es vielleicht manchmal wild wirken mag oder auch ein trauriges Thema aufgegriffen wird: In allen Fällen klärt das Kind seine Beziehung zur Welt damit.“ Kinder dabei zu begleiten und ihre Themen und Interessen aufzuspüren – das ist dann die Aufgabe der Erwachsenen. Das Rollenspiel verrät ganz viel über das, was das Kind beschäftigt – aber kann es auch ein Zuviel an Phantasie geben – etwa, wenn das Kind zu lange im Rollenspiel gefangen bleibt? Auch da sieht Lena S. Kaiser in aller Regel keinen Grund zur Sorge: "So eine Spielwelt kann sich schon einmal über Wochen hinziehen. Die Aufgabe der Eltern ist es einfach, genau hinzugucken. Für Kinder sind die Handlungen im Spiel echt, sie können darin versinken und ein Moment der Freiheit und Unendlichkeit genießen. Sie wissen ihr Spiel aber auch ganz klar von der Realität zu unterscheiden.“

Charlotte und Luisa haben für ihren Rückweg vom Einkaufen nach Hause übrigens einfach schnell mal die Rollen gewechselt: Nun tollt Luisa als Hund um Charlottes Beine, und Luisa seufzt theatralisch, wie schwer der Kinderwagen durch die Einkäufe im Netz geworden ist. Das Leben als Eltern ist eben gar nicht so einfach – das ist doch schon ein einmal ein sehr wichtiger Lerneffekt ... 

Wie das Rollenspiel in die kindliche Entwicklung passt

Das Spielen beginnt im Babyalter – und wird nach und nach immer komplexer: So teilen Experten die verschiedenen Entwicklungsstufen ein: 

Was wird gespielt: Funktionsspiel
In welchem Alter: 0 - 1,5 Jahre
Was passiert dabei: Erleben des eigenen Körpers, Spaß an Wiederholungen

Was wird gespielt: Symbolspiel/Phantasiespiel
In welchem Alter: 1,5 - 3,5 Jahre
Was passiert dabei: Nachahmen

Was wird gespielt: Konstruktionsspiel
In welchem Alter: 2 - 6 Jahre
Was passiert dabei: Bauen mit verschiedenen Materialien

Was wird gespielt: Rollenspiel
In welchem Alter: 2,5 - 6 Jahre
Was passiert dabei: Erfinden von Handlungen und Rollen

Was wird gespielt: Regelspiel
In welchem Alter: 4 - 8 Jahre
Was passiert dabei: Spielen nach Regeln und zu einem bestimmten Ziel

Autor: Rolf von der Reith

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