
Irgendwo zwischen Tränen vor Stolz und der ungläubigen Frage "Wann bitte ist das passiert?!" finden sich Eltern wieder, wenn das Kind beginnt, sich an Gegenständen hochzuziehen und die ersten wackeligen Schritte macht. Klar wollen wir den Mini-Menschen unterstützen und die Sicherheit geben, um dran zu bleiben. Immerhin ist der aufrechte Gang ein großer Meilenstein, denn aufrecht die Balance zu halten ist gar nicht mal so einfach! Reflexartig nehmen wir das Baby beim Laufen lernen dann bei den Händen – und laufen hinter, vor oder neben ihm mit. Der Gedanke dabei: Ich bin da, halte dich und fange dich auch auf, falls du fällst.
Warum ein Baby an der Hand nicht richtig laufen lernt
Intuitiv reichen wir dem Baby die Hand, das kann doch nicht falsch sein, oder ...? Naja, das kommt tatsächlich darauf an: "Am besten man gewöhnt seinem Kind das Laufen an der Hand erst gar nicht an, sondern lässt es das Laufen gleich unabhängig selbst erlernen", so Jennifer Riedel, Kinderphysiotherapeutin nach Bobath. Lasst es sich ausprobieren. Zuhause oder in geschlossenen Räumen suchen sich die Kleinen sowieso oft selbstständig Hilfe und finden diese zum Beispiel an Möbeln. "Nach der Hand verlangt ein Kind eigentlich nur, wenn es diese Art des Laufens beigebracht bekommt", weiß Jennifer Riedel. Viele reichen einem Baby die Hände aus dem Stand, sprich von oben und halten diese umschlossen, so geben wir ihm – in bester Absicht – Stabilität. Aber genau das kann schädlich sein: Es muss nicht so sehr auf sein Gleichgewicht achten, da wir diese Funktion teilweise übernehmen. "Beim Laufen lernen an der Hand ist die 'Spurbreite', also das Maß, wie weit die Beine auseinander stehen, enger – obwohl wir sicherer stehen, je breiter wir die Beine auseinandersetzen. Dabei ist das Gleichgewicht zu halten ein sehr wichtiger Schritt beim Laufen lernen", sagt die Kinderphysiotherapeutin.
Auch der Bodenkontakt, das Auftreten mit der ganzen Sohle, wird an der Hand vernachlässigt. Die Folge: Das Baby verlässt sich auf die Stützhaltung, verlagert sein Gewicht nach vorne, macht ein Hohlkreuz und läuft viel auf den Zehenspitzen. Eine Körperhaltung, in der es alleine nicht laufen würde und könnte. Das Baby lernt nicht richtig, seine Schritte selbst auszubalancieren und verlässt sich sehr auf uns!
Feiner Unterschied: der kleine Finger statt die ganze Hand
Keine Sorge, natürlich könnt ihr euer Baby trotzdem aktiv dabei unterstützen die Welt auf eigenen Beinen zu entdecken: Wenn es beim Laufen lernen die Hände schon nach euch ausstreckt, achtet darauf, ihm eure Hände auf Babys Hüfthöhe zu reichen. (Dass wir Erwachsenen in diesen Situtionen gekrümmt wie eine Banane herumlaufen, lassen wir hier mal außen vor. Hallo Rückenschmerzen, was tut man nicht alles für den Nachwuchs?!) Die Hände und Arme sollten dabei entspannt und nicht angespannt oder durchgestreckt sein und keine feste Stütze bilden, mit der ihr dem Kind Gewicht abnehmt. Stattdessen reichen sogar zwei locker hingehaltene Finger aus. Mit eurer Hilfe findet der Spross etwas Stabilität, merkt aber auch, dass er sich selber ausbalancieren muss, um das Gleichgewicht wiederzufinden. Das ist wichtig, damit sich die Muskulatur richtig ausbildet. Dann heißt es: Lauf Baby, lauf!
"Laufen an der Hand, wenn ein Kind es alleine kann, ist natürlich völlig in Ordnung! In einigen Situationen – zum Beispiel im Straßenverkehr – ist das natürlich auch gar nicht anders möglich“, beruhigt Jennifer Riedel.
Was ihr noch tun könnt, um euer Baby beim Laufen lernen zu unterstützen?
In der Lauflern-Phase hilft es eurem Kind, wenn ihr das Stehen und damit die Balance trainiert. Kleine Übungseinheiten könnt ihr gut "triggern", indem ihr Spielmöglichkeiten in Stehhöhe – ungefähr auf Höhe von Babys Bauchnabel – anbietet. Das kann zum Beispiel ein Kinderstuhl, ein Karton oder ein umgedrehter Korb sein. Übrigens: Dabei oft barfuß zu sein, stärkt Babys Muskulatur und sorgt für eine gute Körperhaltung – natürlich nur, wenn die Temperaturen und der Untergrund das zulassen.
Überblick: Das könnt ihr tun, wenn euer Kind nach eurer Hand verlangt
- Hände auf Babys Hüfthöhe reichen
- Hände oder zwei Finger "weich machen" statt festen Halt zu geben
- Stehen üben durch Spielmöglichkeiten in Bauchnabelhöhe