Diskussion

Dem Baby Ohrringe stechen – hübsch oder Körperverletzung?

Für einige ist es Tradition, für andere ein Tabu: Bei der Frage, ob Ohrringe bei Babys und Kleinkindern in Ordnung sind, scheiden sich die Geister. Eine Mutter sorgt nun für Aufsehen, weil sie ihrer Tochter nur einen Tag nach der Geburt Ohrlöcher stechen lässt – und davon ein Video auf TikTok postet. Wir haben Eltern nach ihrer Meinung und einen Experten zu möglichen Risiken befragt.

Viele Eltern lassen ihren Kindern bereits im Babyalter Ohrlöcher stechen.© Foto: Getty Images/Jose Luis Pelaez Inc
Viele Eltern lassen ihren Kindern bereits im Babyalter Ohrlöcher stechen.

In einigen Gegenden wie Italien oder Mexiko werden aus kulturellen Gründen schon sehr früh Ohrlöcher gestochen – und auch hierzulande gibt es immer wieder Kinder oder sogar Babys, die schon mit wenigen Monaten die ersten Ohrringe bekommen. Wenn sie im Kindergartenalter sind, sind es nicht selten die Mädchen selbst, die auf einmal Ohrschmuck möchten, weil sie es bei anderen Kindern in der Kita-Gruppe gesehen haben.

Ein extremer Fall kursiert gerade im Netz: Eine junge Mutter lässt ihrem Baby Ohrlöcher stechen, nur wenige Stunden nach der Geburt. Der Beweis ist auf ihrem TikTok-Account zu sehen ...

Die kleine Lara ist nur wenige Stunden alt und trägt bereits Ohrringe:

In der Kommentarspalte unter dem Video liest man tatsächlich viel Zuspruch für das frühe Ohr-Piercing. Vielen Fans erging es als Baby genauso. Sie finden es auch heute noch "cute", wenn Babys Ohrringe tragen. Doch die meisten zeigen sich verwundert bis schockiert und fragen, warum ein Säugling bereits Ohrringe tragen müsse. "Wann hat sie gesagt, dass sie Ohrlöcher haben möchte?" fragt ein User mit Bezug auf die absolute Entscheidungsunfähigkeit in dem zarten Alter. 

Ab wann darf man Babys Ohrlöcher stechen?

Rechtlich gibt es für das Stechen von Ohrlöchern in Deutschland keine gesetzliche Altersgrenze. Das heißt: Die Entscheidung liegt bei den Erziehungsberechtigten. Die meisten Mediziner aber raten von Ohrlöchern bei Babys oder Kleinkindern ausdrücklich ab – zu ihnen zählt auch der Rendsburger Kinderarzt Sebastian Groth.

"Bei Kindern unter drei Jahren sollte auf das Ohrlochstechen verzichtet werden", sagt Sebastian Groth. Medizinisch-juristisch falle der Eingriff sogar unter den Begriff "Körperverletzung", jedoch sei es gesellschaftlich und kulturell akzeptiert. Dabei berge er diverse Gefahren: Je jünger das Kind ist, desto größer sei die Gefahr einer Entzündung im Stichkanal – und die kann sehr unangenehm werden. Auch bestehe das Risiko, dass sehr kleine Kinder sich den Ohrschmuck versehentlich herausreißen und ihn verschlucken. Der Kinderarzt weist außerdem darauf hin, dass auch bei kleinen Kindern das Schmerzempfinden sehr gut ausgeprägt ist: "Es ist schmerzhaft!" Deshalb empfiehlt er, erst wenn die Kinder es wirklich wollen, Ohrlöcher zu stechen. Dieser unbedingte Wille sei für die Kinder in diesem Fall eine Art "höheres Ziel", das den Schmerz dann erträgli- cher mache.

Schmerzhaften Eingriff nicht beschönigen

Erst ab dem Grundschulalter seien Kinder dazu in der Lage, sich mit dem zu erwartenden Schmerz wirklich auseinanderzusetzen. Eltern sollten vor dem Eingriff nichts beschönigen, sondern ihrem Nachwuchs deutlich klarmachen, dass der Eingriff mit Schmerzen verbunden ist. Vielleicht reichen ja doch vorerst Ansteckclips?

Wo kann man Kindern Ohrlöcher stechen lassen?

Grundsätzlich gibt es drei Anlaufstellen: Juweliere, Apotheken und Piercer. Erstgenannte arbeiten mit einem Ohrlochstecksystem, der Piercer sticht mit einer Hohlnadel. Die alten "Ohrlochpistolen" kommen nur noch sehr selten zum Einsatz. Ganz gleich, für welchen Weg ihr euch entscheidet: Die Hygiene ist das A und O – nicht nur beim Stechen, sondern auch danach.

Kinderarzt Groth rät dazu, in den ersten Tagen nach dem Eingriff eine Desinfektionssalbe zu verwenden und die Stichstellen ganz genau zu beobachten. Und: "Bitte keine Ohrstecker verwenden, die Metalle enthalten, die eine Reizantwort begünstigen", sagt Groth. "Statt Nickel oder Silber eignen sich Titan oder Echtgold." Wenn sich die Haut innerhalb des Stichkanals organisiert habe, sei sie weniger anfällig für Reaktionen.

Fünf Dinge, die ihr beachten solltet, wenn euer Baby oder Kind Ohrringe bekommen soll

  1. Solltet ihr euch trotz der Risiken für Ohrlöcher entscheiden, beachtet bitte Folgendes: Wartet, bis alle wichtigen Impfungen (vor allem Tetanus) erledigt sind.
  2. Schreibt Hygiene groß! Desinfiziert die Ohrläppchen nach dem Stechen zweimal täglich, um eine Infektion zu vermeiden.
  3. Ohrstecker statt Ohrringe kaufen – sie bleiben nicht so schnell an Kleidung etc. hängen.
  4. Achtung Allergiegefahr: Die Stecker sollten nickelfrei sein.
  5. In den ersten sechs Wochen aufs Schwimmengehen verzichten. Beim Sport und Toben: Ohrringe mit einem Pflaster abkleben.

 

Eure Meinung: Ist es okay, kleinen Kindern Ohrlöcher stechen zu lassen?

Wir wollten wissen, wie Eltern über dieses Thema denken. Hier kommen vier Antworten – pro und contra Ohrstechen.

"Wieso sollte man einem Baby diese Schmerzen zufügen?"

Artjom (39) Entwicklungsingenieur aus Koblenz, zwei Töchter (5 und 7)

Wieso man Babys Ohrlöcher stechen sollte, kann Artjom überhaupt nicht nachvollziehen: "Ich bin komplett gegen Ohrlochstechen bei Babys, das ist ein völlig unnötiger Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Kindes. Wieso sollte man einem kleinen Kind Schmerzen zufügen? Aus ästhetischen Gründen? Das verstehe ich überhaupt nicht. Auch das Abheilen kann bei kleinen Kindern meines Wissens nach problematisch verlaufen, wenn das Baby häufig das Ohr anfasst, außerdem kann es zu Entzündungen oder allergischen Reaktionen kommen. Ich stelle es mir auch ziemlich unbequem vor, wenn ein Baby mit den Ohrringen schläft. Bei älteren Kindern sehe ich es etwas lockerer. Meine Große will bis heute keine Ohrringe. Die Fünfjährige hat sich kürzlich durchgesetzt: Es war ihre bewusste Entscheidung, seit etwa einem halben Jahr hat sie diesen Wunsch geäußert. Daraufhin haben wir sie über die Schmerzen beim Stechen und über den Heilungsprozess aufgeklärt. Sie wollte es sich überlegen, dachte gründlich darüber nach. Und wagte es. Das Abheilen lief gut, wir haben dabei sehr auf die Hygiene geachtet."

"Streng genommen nichts anderes als Körperverletzung"

© Foto: privat

Nathalie (42), Redakteurin aus Villingen-Schenningen (Baden-Württemberg), zwei Töchter (3 und 5)

Nathalie findet, dass Ohrlöcher bei kleinen Kindern, insbesondere Babys und Kindergartenkindern gar nicht gehen: "Streng genommen ist es doch nichts anderes als Körperverletzung. Und wer einmal mit der Pistole Ohrlöcher geschossen bekam, weiß auch, warum. Das Argument, dass ein Baby oder Kleinkind das sowieso 'vergisst', zählt für mich nicht. Es hat ja keine Wahl. Als ich selbst noch ein Kind war, lag ich meinen Eltern damit ewig in den Ohren. Ich weiß noch gut, wie ich mir – als Erstklässlerin – beim Juwelier die Tränen verkniff, weil es doch ganz schön wehtat. Hätte ich natürlich nie zugegeben. Selbst wenn ein Ohrloch relativ schmerzfrei von einem Piercer gestochen wird, muss es heilen, kann sich entzünden oder eitern. Bei meinen wilden Töchtern hätte ich zudem Angst, dass sie irgendwo hängen bleiben. Meine Schwester riss sich als Teenie mal einen Ohrring raus, und es blutete gefühlt stundenlang. Ganz abgesehen davon finde ich Ohrringe bei kleinen Kindern auch einfach nicht schön."

"Das Piercingstudio verlieh eine Tapferkeitsurkunde"

© Foto: privat

Denise (35), Diplom-Medienwirtin aus Wiesbaden, zwei Töchter (3 und 5)

Denise ist generell für Ohrlöcher bei Kindern, jedoch erst, wenn sie selbst den Wunsch danach äußern und es aus gesundheitlicher Sicht unbedenklich ist: "Als meine Tochter fünf geworden war, wollte sie Ohrringe, weil einige Freundinnen aus dem Kindergarten bereits welche hatten. Ich hatte prinzipiell nichts dagegen, da ich selbst Ohrringe trage. Allerdings habe ich mir vorab bei unserer Kinderärztin Rat eingeholt. Sie sagte, dass eigentlich nichts dagegen sprechen würde, da meine Tochter eine gute Haut, keine Hautentzündungen oder Hautprobleme hätte und in einem Alter war, in dem sie die Pflege nach dem Ohrlochstechen schon versteht. Sie hat beim Schießen der Ohrlöcher ein wenig geweint, aber nach ein paar Minuten überwog bereits die Freude und der Stolz darüber, nun endlich Ohrlöcher zu haben. Sie hat vom Piercingstudio sogar eine Tapferkeitsurkunde erhalten, die in ihrem Zimmer hängt."

"Meine Tochter bekam ihre Ohrstecker mit 15 Monaten"

© Foto: privat

Johanna (32) Jahre, Personalreferentin aus Schwanau (Baden-Württemberg), eine Tochter (2)

Da Johanna Ohrstecker bei Mädchen schon immer schön fand, war für sie klar, dass auch ihre Tochter einmal Ohrlöcher bekommen sollte: "Meine Tochter bekam mit 15 Monaten ihre Ohrlöcher und Ohrstecker. Ich habe damals gewartet, bis sie laufen kann. Die Reaktionen aus meinem Umfeld waren unterschiedlich. Ältere, wie beispielsweise meine Mutter oder Schwiegermutter, fanden es total normal. Früher hat man sich um den richtigen Zeitpunkt wohl keine Gedanken gemacht – ich selbst bekam mit sechs Monaten Ohrlöcher. Einigen anderen, eher jüngeren Müttern habe ich gleich angesehen, dass sie das nicht gut fanden. Sie sagten, ihre Mädchen sollen vor dem dritten Geburtstag keine Ohrlöcher bekommen. Einige begründeten diese Entscheidung damit, dass sich die Kinder selbst dazu entschließen sollen, Ohrlöcher zu bekommen. Nur ist das dann meistens so gelaufen, dass die Mädchen zum dritten Geburtstag Ohrringe als Geschenk bekamen – und dies dann aber auch nicht der eigene Wunsch der Kleinen war. Daher macht es für mich keinen Unterschied, ob mit 15 Monaten oder drei Jahren. Meine Tochter hat das Stechen gut mitgemacht, und es war kein Problem. Ich würde es wieder so machen."

Autorin: Nathalie Klüver

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