
Was genau versteht man unter Shiatsu – speziell in Bezug auf Babys? Wie funktioniert es?
Karin Kalbantner-Wernicke: Shiatsu stammt ursprünglich aus Japan, ist dort eine staatlich anerkannte Methode, hat sich aber mittlerweile über die ganze Welt verbreitet. Mittels sanftem Fingerdruck (jap. shi = Finger, atsu = Druck) werden dieselben Energiebahnen (Meridiane), wie wir sie auch in der Akupunktur kennen, angesprochen. Diese angenehme und achtsame Form der Berührung mögen Babys sehr. Im Baby-Shiatsu unterstützen wir mit diesem sanften Drücken den gerade anstehenden Entwicklungsschritt des Babys. Zahlreiche Studien in USA und Europa haben gezeigt, dass Babys und Kinder auf moderate Drucktechniken besonders gut reagieren.
Doch Baby-Shiatsu ist mehr als nur sanftes Drücken. Es ist vielmehr ein Konzept, bestehend aus mehreren Bausteinen. Dazu gehören Tipps für die Eltern, um die täglichen Herausforderungen im Alltag mit einem Baby oder eventuell noch zusätzlichen Geschwisterkindern besser bewältigen zu können, ebenso Wissensvermittlung über kindliche Entwicklung aus westlichem und östlichem Blickwinkel wie auch Übungen zur Stärkung des Meridiansystems der Eltern.
Weiterhin erhalten Eltern Sicherheit im Umgang mit ihrem Baby, zum Beispiel um rechtzeitig zu erkennen, wann ein Baby sich vielleicht nicht wohl fühlt, oder wie ein Baby richtig hochgehoben und getragen wird.
Dieses Konzept führte dazu, dass sich Baby-Shiatsu als moderne Babybehandlungsmethode aus der Tradition Japans weiter entwickeln und weltweit etablieren konnte und sogar seinen Weg zurück nach Japan gefunden hat. Dort wird es mittlerweile in seiner modernen, westlichen Überarbeitung praktiziert und gelehrt. Im deutschsprachigen Raum ist das Ausbildungsprogramm Baby-Shiatsu bereits universitär zertifiziert.
Wie unterscheidet sich Shiatsu von Physiotherapie und Babymassage?
Baby-Shiatsu ist eine Methode, die einerseits auf traditionellem, japanischem Wissen – besonders die Meridianentwicklung – und andererseits auf den westlichen Entwicklungs-und Bindungstheorien beruht. So lässt sich Entwicklung aus verschiedenen und damit ganzheitlichen Blickwinkeln betrachten. Und wir können besser verstehen, was das Baby und seine Eltern brauchen und optimale, zielorientierte Angebote machen.
Anders als in der Babymassage wird im Baby-Shiatsu mit sanften, achtsamen Drucktechniken und nicht mit Streichungen gearbeitet. Auch wird kein Öl benutzt und es wird am leicht bekleideten Körper gearbeitet. Daher lassen sich die "Glücksgriffe", wie wir sie im Baby-Shiatsu bezeichnen, überall und ohne Aufwand einsetzen. Der klare, bestimmte Druck ermöglicht dem Baby, seine eigene Grenze zu spüren und sich dadurch im eigenen Körper zu Hause zu fühlen. Aus dieser Sicherheit heraus kann es dann die noch fremde Welt erforschen. Eltern sind immer wieder erstaunt, wie sehr ihr Baby diese Art von Berührung liebt und sogar eine bestimmte Druckstärke einfordert.
Während für die Physiotherapie in der Regel eine ärztliche Verordnung aufgrund eines Problems oder Defizits vorliegt, ist im Baby-Shiatsu das Ziel, die gesunde Entwicklung der ganzen Familie zu unterstützen. Baby-Shiatsu beruht auf dem Gedanken, dass jeder Mensch einzigartig und mit besonderen Potenzialen auf diese Welt gekommen ist. Baby-Shiatsu unterstützt das Entfalten dieser Potentiale und gibt so Kindern ein solides Rüstzeug für das spätere Leben mit.
Muss man für Baby-Shiatsu einen speziellen Therapeuten aufsuchen oder können Eltern die Shiatsu-Techniken selbst lernen, beispielsweise in einem Baby-Shiatsu-Kurs? Kann man die Methode auch einfach anhand eines Buches lernen?
Baby-Shiatsu kommt nicht nur als Einzelanleitung, sondern auch in Eltern-Kind-Gruppen zur Anwendung. Hier wird das Buch von Eltern gerne zur Kursbegleitung genutzt. Findet in der Nähe kein Kurs statt, können die Behandlungstechniken mithilfe des Buches, insbesondere unterstützt durch die kleine Filmsequenzen, direkt umgesetzt werden. Aber natürlich hat es eine andere Qualität, einen Kurs zu besuchen, sich mit anderen Müttern und Vätern auszutauschen und durch die Kursleitung individuelle Fragen beantwortet oder praktische Techniken gezeigt zu bekommen.
Warum wendet man Shiatsu bei Babys und Kleinkindern an? Hilft es auch beim Einschlafen, Zahnen, bei Bauchschmerzen und Blähungen oder bei innerer Unruhe? Wobei noch? Müssen zwangsläufig Beschwerden vorliegen oder kann man Shiatsu auch einfach so fürs Wohlbefinden anwenden?
Das Hauptziel von Baby-Shiatsu ist, die Entwicklung der gesamten Familie zu unterstützen und nicht der Blick auf Beschwerden. Im Rahmen unserer "Glücksgriffe" können wir mit speziellen Techniken bei diesen täglichen Herausforderungen im Babyleben Erleichterung verschaffen. Viele dieser Techniken sind fester Bestandteil im Familienalltag und kommen auch bei größeren Kindern zum Einsatz.
Haben Sie ein Beispiel für eine ganz einfache Shiatsu-Übung, die Eltern mit ihrem Kind durchführen können?
Aus unserem Workout für Winzlinge die Übung "Gute Nacht!": Umfassen Sie die Fußgelenke Ihres Kindes und üben Sie jeweils mit einem Daumen für ein bis zwei Minuten etwas Druck auf die Vertiefung in der Fußsohle aus. Dieser Punkt heißt "Sprudelnder Quell". Die Berührung dieses Punktes beruhigt und fördert den Schlaf.
Wie reagieren Säuglinge Ihrer Erfahrung nach auf eine Shiatsu-Behandlung? Merkt man unmittelbare Veränderungen? Wirkt Shiatsu bei jedem Kind?
Ein Ziel von Baby-Shiatsu ist, das Kind in dem anstehenden Entwicklungsschritt zu unterstützen – und genau das sehen wir häufig, dass das auch geschieht. So hat zum Beispiel gerade noch die Bauchlage heftigen Protest ausgelöst und nun bleibt das Baby zufrieden für einige Zeit auf dem Bauch liegen. Oder das Stillen hat sich ewig in die Länge gezogen, weil das neugierige Kind mehr an der Umwelt interessiert war anstatt zu saugen. Nun ist es seit der Behandlung konzentriert bei der Sache.
Ein weiteres Beispiel: Eine Mutter war sehr unsicher, wie sie ihr Kind beruhigen könne, nun hat sie eine Technik gefunden, die für sie und das Baby passt. Aber manchmal ist es einfach nur wichtig, Eltern darüber aufzuklären, dass sich ein Kind mit drei Monaten noch nicht drehen muss – auch die fachkundige Beratung ist Bestandteil von Baby-Shiatsu.
Die Erklärung, warum viele Babys und auch größere Kinder den achtsamen, sanften Druck, den wir im Baby-Shiatsu ausüben, so sehr lieben, liefert ein Blick in deren vorgeburtliche Zeit: Druck und Begrenzung scheint ihnen Sicherheit zu geben. Das beobachten wir auffallend häufig bei durch Kaiserschnitt entbundenen Babys und Kindern. Sie scheinen geradezu Druck und Begrenzung zu suchen.
Welchen Einfluss hat Baby-Shiatsu auf die Eltern-Kind-Bindung?
Mit der für das Baby-Shiatsu typischen sanften und klar strukturierten Behandlung gehen Eltern direkt auf die Bedürfnisse und Wünsche der Kleinsten ein. So können Eltern ihr Kind von Anfang an liebevoll begleiten und die Bindung zum Kind festigen – zumal Baby-Shiatsu leicht erlernbar ist. Diese besondere Qualität des Miteinanders vermeidet Stress bei Eltern und Kind, unterstützt die Babys in der Entwicklung einer Selbstregulation und bestärkt Eltern in ihrer Selbstwirksamkeit.
Können Eltern die Technik auch für sich selbst anwenden, beispielsweise zur Entspannung?
Oft erweckt der Begriff Baby-Shiatsu den Eindruck, dass der Fokus ausschließlich auf den Babys liegt, doch tatsächlich spielt die Stärkung der Eltern eine mindestens ebenso große Rolle. Eltern wollen das Beste für ihr Kind und manches anders machen als die eigenen Eltern. Dabei erwischen sie sich dann, dass sie sich manchmal doch nicht so anders verhalten.
Da Eltern aber auch mal Kinder waren, haben natürlich auch sie eine Entwicklung durchlaufen – dazu gehört neben der bekannten motorischen und sensorischen auch die energetische Entwicklung, hier speziell die Entwicklung der Meridiane. Deshalb prägt die Kindheit der Eltern deren jetziges Verhalten. Ob sie das wollen oder nicht. Aus diesen Gründen hat die eigene Kindheit mit ihren energetischen Mustern für sie Folgen – und das ganz besonders in deren frühen Elternzeit. Jetzt treten, bevorzugt in Stresssituationen, die wohl alle Eltern durchlaufen, diese frühen Themen ihrer eigenen Meridianentwicklung als alte Muster erneut in Erscheinung. Diese können Eltern als Stärken bereichern oder als Stolpersteine viel Energie kosten.
Hier unterstützen bestimmte Meridian-Aktivierungsübungen die Entfaltung des eigenen Meridiansystems und eröffnen neue Möglichkeiten im Umgang mit ihren Kindern. Andere Übungen, die wir als Krafttankstelle bezeichnen, dienen dazu, einfach mal aufzutanken oder einen kühlen Kopf zu bewahren. Auch Tipps, wie im hektischen Alltag mit dem Baby Ruhepunkte gefunden werden können, gehören zum Gesamtkonzept.
In unseren Baby-Eltern-Shiatsu-Kursen erwerben Eltern den spielerischen Umgang mit den jeweiligen Entwicklungsthemen ihres Babys. Die entsprechende Behandlungssequenz erlaubt Eltern, positive Erfahrungen mit den eigenen energetischen Mustern zu machen, ohne dass irgendwelche "Schwachstellen" benannt werden.
Übernehmen die Krankenkassen die Kosten für eine Behandlung oder einen Kurs?
Bisher bieten nur in Österreich sowie einige Kassen in der Schweiz für ihre Mitglieder Kurse in Baby-Shiatsu an. In Deutschland ist man noch nicht so weit, obwohl unsere Kursleiterinnen universitär zertifiziert sind. Aber wir hoffen, eines Tages eine innovative Krankenkasse zu finden, mit der wir ein Pilotprojekt starten können.
Hier erfahrt ihr mehr über Baby-Shiatsu: babyshiatsu.de
Eltern-Übung: Innehalten und neue Kraft tanken

Manchmal wird alles zu viel, dann kann der Punkt, der den schönen Namen "Palast der Nervosität" trägt, helfen durchzuatmen und zur Ruhe zu kommen. Zudem schenkt er neue Energie und gute Laune:
Suche dir einen schönen Stein, der sich gut in der Hand anfühlt, bewahre diesen dann immer für die Übung griffbereit auf. Solltest du im Moment keinen Stein zur Verfügung haben, nimm einen einen dicken Stift.
Nimm den Stein oder Stift zwischen beide Handflächen und rubbel ihn kräftig hin und her. Wenn du magst, schließe die Augen, dann kannst du die Wirkung noch besser spüren.
Unser Buch-Tipp

Karin Kalbantner-Wernicke und Tina Haase: "Starke Babys. Entspannt ins Leben mit Shiatsu", Freya, 16,90 Euro.
Das Interview führte Irlana Nörtemann