
Wir Eltern lassen uns verdammt leicht verunsichern. Denn schließlich wollen wir alles zu 100 Prozent richtig machen, wenn es um unsere Kinder geht. Wir hyperventilieren ja schon, wenn der Fruchtzuckeranteil im Obst-Quetschie viel zu hoch für unseren kleinen Liebling ist.
Und dann steht eben dieser Liebling, mittlerweile ein paar stolze Jahre alt, beim Abendessen vor uns – und bittet um einen Extrateller für Olmo. Olmo ist kein Kita-Spielkamerad, kein Kuscheltier und keine Actionfigur. Olmo ist unsichtbar und existiert nur im Kopf unseres Kindes: ein imaginärer Freund. Panik befällt uns. Und während wir freundlich lächelnd ein weiteres Gedeck vor einem leeren Stuhl platzieren, spielen die Fragen in unserem Kopf Kettenkarussell: Was haben wir nur falsch gemacht?! Wer kann jetzt noch helfen? Der Kinderarzt? Oder sollten wir mit dem Nachwuchs besser direkt zur Psychologin? Und noch einmal: WAS HABE ICH NUR FALSCH GEMACHT?!
Imaginärer Freund: zu Unrecht verurteilt
Die einfache und erleichternde Antwort: rein gar nichts. Im Gegenteil. Wenn euer Kind einen unsichtbaren Spielgefährten erfindet, kann das sogar ein Zeichen von besonderer Kreativität sein. Das fand der Psychologe Jerome Singer von der Yale University heraus. Er stellte in seinen Studien außerdem fest, dass Kinder mit imaginären Freunden insgesamt weniger schüchtern sind, höhere soziale Kompetenzen aufweisen und zudem ein besseres Sprachgefühl besitzen als andere Kinder. Weitere Wissenschaftler bestätigen diese Ergebnisse. Dem Fantasiefreund haftet nur deshalb ein so schlechter Ruf an, weil er jahrelang zu Unrecht als Vorbote psychischer Störungen verurteilt wurde. Der Psychiater Benjamin Spock zum Beispiel deutete ihn als Zeichen, dass dem Kind die Fähigkeit fehle, sich mit anderen (echten) Kindern zu beschäftigen. Erst im Jahr 1997 wurde der unsichtbare Kumpel aus der Negativschublade geholt. Nun hat Marjorie Taylor, Psychologin an der Universität Oregon, ihre erste Studie über die Bedeutung imaginärer Freunde für ihre "Besitzer" veröffentlicht.
Zwei Drittel aller Kinder erfinden einen Fantasiefreund
Die erstaunlichste Nachricht vorweg: Laut der Studie von Marjorie Taylor werden rund 65 Prozent aller Kinder in einer Phase ihres Lebens von einem unsichtbaren Freund begleitet. Manche nur für einen kurzen Zeitraum. Andere wiederum über Jahre. Im Alter von drei bis fünf Jahren erfinden Kinder besonders häufig einen imaginären Freund, da sich in dieser Zeit das Sozialverhalten besonders stark entwickelt. Dabei sind Einzelkinder und ältere Geschwister öfter betroffen – und das gern in sogenannten "Übergangssituationen", zum Beispiel, wenn ein Geschwisterkind geboren wird, die Eltern sich trennen oder die gesamte Familie in eine neue Stadt zieht.
Ein unsichtbarer Freund spendet Trost und muss auch als Sündenbock herhalten
Und damit sind wir auch schon bei den positiven Auswirkungen, die ein imaginärer Kumpel auf seinen "Erschaffer" hat: "Fantasiefreunde sind nicht nur Spielgefährten", weiß Erzieherin Delaram Gholizadeh: "Sie können Sprachrohr, Tröster, Verbündeter und sogar Sündenbock sein." So kann der imaginäre Freund für eine simple Ausrede herhalten ("Ich hab das nicht kaputt gemacht, das war Olmo!"). Er leistet noch viel mehr: "In stressigen Situationen kann der Fantasiefreund ein Kind beruhigen – häufig viel besser als ein Erwachsener. Und das Kind kann durch ihn Gedanken äußern, die es sich selbst nicht auszusprechen traut", erklärt Delaram Gholizadeh weiter. "Wenn der Fantasiefreund also plötzlich will, dass das Geschwisterchen 'wieder weggeht', sollten die Eltern das zum Anlass nehmen, mit dem Kind über seine Rolle in der Familie zu sprechen – und ihm die Sorge nehmen, dass sein Platz durch den Nachwuchs bedroht ist."
Keine Panik! Irgendwann verabschiedet sich der imaginäre Freund von selbst
Wünscht sich dein Kind also einen freien Platz am Essenstisch für seinen Olmo, verfallt nicht in Panik, sondern spielt einfach mit. Euer Kind hat offenbar eine lebendige Fantasie. Außerdem sucht es selbstständig nach Möglichkeiten, seine Erlebnisse besser zu verarbeiten. Das sind zwei gute Nachrichten. Akzeptiert Olmo daher als das, was er ist: ein freundlicher Besucher, der zwar unangemeldet auftaucht – aber genauso eines Tages wieder verschwindet. Und bis dahin kann er euch viel über die Wünsche, Sorgen und Ängste eures Kindes verraten.
Autorin: Silke Schröckert