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"Bist du fit genug, um zur Schule zu gehen? Oder geht es dir so schlecht, dass du zu Hause bleiben musst?", frage ich meinen Sohn, der mit verstopfter Nase und von seinem eigenen Husten wach geworden ist. In den folgenden Momenten sehe ich förmlich, wie es in seinem Hirn rattert.
Schule ist spätestens ab der 2. Klasse insgesamt eher nervig, das ist mir klar, und für einen Achtjährigen ist so ein Tag zu Hause (der vermutlich irgendwann vor dem Bildschirm enden wird, weil Mama auch im Home-Office nun einmal wirklich arbeiten muss) mehr als verlockend. Aber dieser Achtjährige kennt auch die goldene Regel: Wer zu krank für die Schule ist, ist auch zu krank für Playdates am Nachmittag. Und für die heutige heiß ersehnte Verabredung ist doch alles schon vorbereitet: Die Lego-Star-Wars-Eiswelt aus Styropor wartet seit Tagen darauf, dem besten Freund präsentiert zu werden. Der Corona-Test war natürlich negativ und Fieber hat er auch keins, sonst würden wir diese Unterhaltung gar nicht führen. Aber die Nase läuft. Und dann ist da noch der Husten: Nicht oft und nicht so schlimm, dass es meinem Sohn wirklich schlecht ginge – aber wenn, dann laut und deutlich. Und wer will kurz nach dem Ende der Maskenpflicht schon der Erste sein, der durch den Klassenraum bellt, weil er mit Symptomen zum Unterricht geschickt wurde? Nein, so richtig schlecht geht es ihm nicht, sagt er jetzt. Aber wirklich gut fühlt es sich auch nicht an, heute zur Schule zu gehen. Und nun? Was meinst du denn, Mama, fragt sein bohrender Blick. Und da erst realisiere ich es: Ich bin ja selbst komplett mit der Frage überfordert, was nun das Richtige ist – wie sollte es da mein Kind wissen? Wie bin ich überhaupt darauf gekommen, IHM diese Entscheidung zu überlassen?
Die Generation der kleinen Entscheider
Ich muss an ein Interview mit dem Generationenforscher Rüdiger Maaß denken, das ich vor Kurzem gelesen habe. Laut dem Experten überlassen wir Eltern heutzutage unseren Kindern viel zu oft die Bürde der Entscheidung. Das geht in manchen Familien so weit, dass die Kinder über das Modell des neuen Autos oder den nächsten Urlaubsort mit abstimmen sollen – im Zweifel, ohne die Optionen wirklich zu kennen, geschweige denn zu verstehen. Meine Fünfjährige jedenfalls kann die Vorzüge eines Ferienhauses in den Niederlanden nicht sinnvoll mit denen einer Finca auf Mallorca vergleichen – es sei denn, eine der beiden Unterkünfte hätte einen Fernseher oder einen Pool mit Wasserrutsche und die andere nicht, dann wäre der Fall klar.
Aber es muss auch gar nicht um solch "große" Dinge gehen: Das frühe Mit-Entscheiden beginnt ja schon bei Banalitäten wie der Frage, was es heute zu essen gibt oder welches Outfit zur Kita angezogen werden soll. Ewige Diskussionen sind in vielen Familien (auch in meiner!) an der Tagesordnung. Und enden oft damit, dass das Kind im Winter mit Kurzarmshirt oder bei 25 Grad mit Wollmütze in der Einrichtung erscheint. Können die Erzieher dann ja regeln, wenn der kleine Liebling friert oder schwitzt. Auf die hört das Kind eh viel besser. Aber warum nur? Vielleicht, weil sie klare Ansagen machen, anstatt ewig rumzudiskutieren?
Bei uns war das alles anders!
Es ärgert mich, dass ich mich gerade selbst bei dem nervigen "Früher hätte es sowas nicht gegeben"-Gedanken erwische. Aber er stimmt: Meine Eltern hätten mit mir niemals darüber diskutiert, ob ich im Winter die Sandalen anziehen kann (auch nicht wenn ich die ganz superdicken Socken drunter ziehe und hoch und heilig verspreche, nicht in Pfützen zu treten). Und ganz bestimmt hätten sie mich niemals gefragt, ob ICH finde, dass ich in die Schule gehen kann. Das entschied allein das Fieberthermometer – und der gesunde Menschenverstand meiner Mutter. Und wenn IHR Nein einmal ausgesprochen war, dann blieb es auch ein Nein, das nicht hinterfragt wurde. Warum nur traue ich mich das nicht? Habe ich so große Angst, der Bumann zu sein, weil ich dann auch diejenige bin, die das Playdate verbietet? Und gehört das zum Elternsein nicht irgendwie dazu?
So anstrengend wie der Alltag eines Managers
In dem genannten Interview wird unserer Eltern-Generation übrigens vorgeworfen, dass wir unseren Kindern mit den vielen Optionen einen Alltag aufbürden, der für sie sinngemäß so anstrengend sei wie der Arbeitstag eines Managers. Jede Entscheidung kann eine falsche sein und bringt für einen kleinen Menschen viel mehr Verantwortung mit sich, als wir uns vorstellen können. Oft sei es deshalb für die Kinder schöner und einfacher, wenn wir Eltern ihnen Entscheidungen auch mal abnehmen – und uns trauen, diese durchzusetzen.
Als ich das lese, muss ich mich an einen der schönsten Arbeitstage meines Lebens zurückerinnern: Ich war angestellt in einer großen Werbeagentur, hatte normalerweise permanent mit Kunden, Kollegen und Pressevertretern zu tun, musste manche Entscheidungen mehrstufig abstimmen und andere wiederum sekundenschnell allein auf mich nehmen. Doch an diesem einen Tag sollte ich aushelfen in einer Papierfabrik: Ein Fehldruck, den ich mit verantwortet hatte, musste neu konfektioniert werden. Und weil schon genug finanzieller Schaden angerichtet war, sollte ich selber anpacken. Das Ganze war als Lektion, als Strafarbeit gedacht. Doch es entpuppte sich als entspannte Auszeit: Den ganzen Tag lang wurde mir vorgegeben, was mein nächstes To-Do war – und ich hatte nichts weiter zu tun, als das Gesagte auszuführen. Nein, mein Leben lang wollte ich nicht DinA5-Beilagen in DinA4-Magazine stecken oder Kartons nach Nummern sortieren. Aber für den Moment fühlte es sich einfach herrlich entspannt an, den Kopf auszuschalten – und anderen das Entscheiden überlassen zu dürfen.
Ich entscheide, ich bin hier schließlich die Mama!
Mein Sohn steht immer noch vor mir, mittlerweile den Tränen nahe. "Aber wenn es mir nachmittags besser geht als jetzt, und wenn ich die verpassten Schulsachen ganz schnell nachhole, kann ich dann doch noch Besuch bekommen? Wenn ich nicht mehr huste?", fragt er nun. Und bevor ich mich auf die Diskussion einlasse, entscheide ich: Nein. Keine Schule heute. Also auch keine Spielverabredung. Ab ins Bett, Hörspiele hören und gesund werden. Ich erkenne nicht sofort, welche Emotion im Gesicht meines Sohnes überwiegt: Die Enttäuschung über das abgesagte Playdate – oder doch die Erleichterung, dass ihm diese schwere Entscheidung endlich abgenommen wurde. Er hinterfragt sie an diesem Tag nicht mehr.
Ob ich nun zu vorsichtig oder genau richtig gehandelt habe, ob mein Sohn eigentlich zur Schule gekonnt hätte oder im Bett doch besser aufgehoben war, weiß ich noch immer nicht so genau. Aber das sind Elternfragen. Keine Sorgen, die sich Kinder machen sollten. Und in mir breitet sich gerade das wunderbare Gefühl aus, diese Gedanken nicht auf meinen Sohn abgewälzt zu haben.