
Parentifizierung kann man wörtlich übersetzt als "zu Eltern machen" definieren. Gemeint ist damit das Phänomen, dass sich bei vielen Eltern und Kindern aus den verschiedensten Gründen die Rollen – zumindest in einigen Bereichen – vertauschen. Doch gerade für die Kinder bleibt das oft nicht ohne Folgen. Wir haben mit der Familienpsychologin Elisabeth Raffauf gesprochen, die uns spannende Einblicke in dieses Phänomen gibt und auch ein paar handfeste Tipps parat hat, wie man der Parentifizierungsfalle entkommt.
Parentifizierung – was bedeutet das eigentlich?
Parentifizierung kann sich in vielen Bereichen zeigen. Und sie hat viele Facetten. Wenn wir uns als Eltern überfordert fühlen, vielleicht neben der Kindererziehung auch noch unsere eigenen Eltern pflegen müssen, nach einer Trennung, einem Todesfall oder in anderen schwierigen Lebenssituationen, kann es passieren, dass wir unseren Kindern mehr aufbürden, als sie eigentlich tragen können. Vielleicht müssen sie nach einer Trennung selbst ein Stück weit die Rolle des Partners übernehmen, die Mama trösten oder mit den kleinen Geschwistern helfen. Gerade kleine Kinder wollen gerne kooperieren und tun alles, damit es den Eltern gut geht. Doch dabei geraten häufig ihre eigenen Bedürfnisse zu sehr in den Hintergrund. Sie lernen dann, dass diese nicht wichtig sind und fühlen sich verantwortlich dafür, dass es anderen gut geht.
In ihrem Buch (siehe Buchtipp unten) schreibt Elisabeth Raffauf über die elfjährige Antonia. Sie streitet sich häufig mit ihrer Mutter, die als Musikerin viel unterwegs ist. Nach der Trennung vom Vater hatte die Mutter wieder einen Freund, von dem sie inzwischen auch getrennt ist. Antonia tröstet ihre Mutter manchmal, wenn sie traurig ist, dass ihr Partner weg ist. Ein geregeltes Familienleben mit gemeinsamen Mahlzeiten gibt es bei ihnen nicht. Genau wie bei Antonias Mutter früher, als sie Kind war. Antonia trödelt, hilft nicht im Haushalt und isst hauptsächlich Pizza und Schokoriegel. Manchmal hat sie Angst. Zum Beispiel davor, auf die Fugen zwischen den Gehwegplatten zu treten. Eigentlich wünscht sie sich nur ein sicheres Zuhause. Und weniger Streit.
Emotionale Parentifizierung: Was ist das Schwierige daran?
Wenn Kinder quasi die Elternrolle übernehmen, bedeutet das für sie automatisch eine Überforderung. "Wenn sie sich um die Eltern sorgen, sich zu viel kümmern müssen, können sie sich nicht altersgemäß entwickeln", erklärt Psychologin Elisabeth Raffauf. Auch für das Rebellieren, das zum Beispiel in der Pubertät richtig und wichtig ist, bleibe dann kein Raum. "Wenn die Kinder sich so verantwortlich fühlen, dass sie für die Eltern da sein wollen oder müssen, fehlt ihnen die Möglichkeit, eigene Wege zu gehen, die anders sind als die der Eltern", so die Expertin weiter. Diese Möglichkeit zu rebellieren gehört aber dazu, damit sich wirkliches Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein entwickeln kann.
Elisabeth Raffauf erzählt von der 15-jährigen Josefine, die alleine zur Erziehungsberatung kommt, um mit jemand Neutralem zu sprechen. Ihre Mutter sei sehr launisch und unberechenbar. Mal fliegen die Fetzen, mal kuscheln sie zusammen. Josefines Vater interessieren nur ihre Schulnoten. "Können Sie meinen Eltern mal sagen, wie sie mich erziehen sollen?", fragt sie. Sie wünscht sich, gesehen und nicht auf ihre Noten reduziert zu werden.
Noch mehr Gründe, weshalb Eltern ihre Kinder parentifizieren
In den allermeisten Fällen läuft Parentifizierung unbewusst ab. Eltern wollen ihre Kinder ja nicht als Ersatzpartner einsetzen oder ihnen zu viel Last übertragen. Es kann auch sein, dass wir es selbst von unseren Eltern nicht anders gelernt haben und dieses Muster nun an unsere Kinder weitergeben. Wenn unsere Bedürfnisse in der Kindheit nicht erfüllt wurden, erwarten wir nun möglicherweise von unseren eigenen Kindern, dass sie sie für uns stillen. Wir tragen aufgrund unbefriedigter Bedürfnisse in unserer Kindheit eine Leere in uns, die tatsächlich aber kein anderer Mensch füllen kann – schon gar nicht unsere Kinder.
Parentifizierung kann auch so aussehen, dass Eltern ihre Kinder immer gewähren lassen, ihnen nichts verbieten. "Doch Kinder brauchen Halt, diese vermeintliche Freiheit überfordert sie", erklärt Elisabeth Raffauf. Wenn Kinder zu viele Entscheidungen selbst treffen müssen, spüren sie aufgrund der Überlastung eher Ohnmacht als Macht. Das ist kein gutes Gefühl. Bei diesen Eltern, die ihren Kindern so viel Freiraum geben, steckt mitunter die Angst dahinter, ihr Kind könnte sie nicht mehr lieben, wenn sie ihm nicht alles erlauben. Dabei brauchen Kinder so dringend verlässliche Eltern und eine stabile Basis. Oft sind sie sogar dankbarer für ein klares "Nein" als für ein "Entscheide du".
Parentifizierung zeigt sich in unterschiedlichen Symptomen
Wie gesagt ist schon kleinen Kindern das Wohlbefinden ihrer Eltern sehr wichtig. Ob das auch an ihrer starken Empathie, ihrem Mitgefühl liegt? Das könne sehr gut sein, meint die Psychologin. Elisabeth Rauffauf: "Manchmal kommunizieren die Kinder das ganz klar. Sie sagen dann Sätze wie 'Mama braucht mich', 'Ich will meinen Eltern nicht zur Last fallen' oder 'Das macht Mama glücklich'. Man braucht ein sehr feines Gespür, um zu erkennen, ob Kinder unter zu viel Verantwortung leiden."
Parentifizierte Kita-Kinder zeigen ihre Überforderung manchmal in körperlichen Beschwerden wie Kopf- oder Bauchschmerzen. Andere dadurch, dass sie nicht in der Kita sein wollen. Sie weinen und möchten nach Hause. "Parentfizierte Kita-Kinder ziehen sich im sozialen Umfeld manchmal zurück, spielen nicht mehr mit, werden lethargisch oder gleichgültig, träumen sich weg oder essen nicht mehr", berichtet die Psychologin. Andere – eher im Schulalter – werden aggressiv oder verletzen sich sogar selbst. Natürlich muss es dazu nicht kommen.
Spätfolgen von Parentifizierung und psychische Störungen im Erwachsenenalter
Genauso ist es mit möglichen Spätfolgen. Auf die Frage, ob Parentifizierung für psychische Störungen im Erwachsenenalter sorge, gibt es laut Elisabeth Raffauf keine eindeutige Antwort: "Das hängt sehr stark vom Grad der Parentifizierung und vom Zeitpunkt in der Kindheit ab. Erleben Kinder ein zu starkes Verantwortungsgefühl, das sie nicht tragen können, kann es vorkommen, dass sie sich noch als Erwachsene für Menschen und Dinge verantwortlich fühlen, die sie einfach nicht in der Hand haben." So gebe es Menschen, die denken, sie müssten sich um das Glück ihrer Geschwister oder ihres Chefs kümmern – eine Aufgabe, die niemand erfüllen kann, so die Psychologin. In eigenen Beziehungen muss oft das richtige Maß erst gefunden werden. Vielleicht fühlt man sich für den Partner so sehr zuständig, dass man die eigenen Bedürfnisse kaum noch wahrnimmt. Oder das genaue Gegenteil ist der Fall, man zieht sich komplett raus und macht für alles den anderen verantwortlich. Es können sich auch Ängste entwickeln oder das lethargische Gefühl, nicht aus dem Bett zu kommen. Typische Reaktionen auf Überforderungsgefühle.
"Macht es wie eure Kinder, werdet erwachsen"
Dieser Slogan der "Fridays for Future"-Bewegung zeigt deutlich, dass es sich auch hier um eine Form der Parentifizierung handelt. Die Kinder rufen uns Eltern und die Politiker dazu auf, etwas zu tun, das längst überfällig – und eigentlich unsere Aufgabe ist, nicht die unserer Kinder. Was wir zerstört haben, versuchen sie nun zu retten. Damit machen sie eigentlich unseren Job.
Parentifizierung auflösen – das geht!
Wenn Eltern merken, dass sie ihr Kind parentifizieren, ist es ganz wichtig, sich selbst zu überprüfen. "Selbstreflexion ist hier entscheidend", bringt Elisabeth Raffauf es auf den Punkt. "Die eigenen Probleme nicht mit dem Kind, sondern mit anderen Erwachsenen besprechen." Die Kinder merken von selbst, wenn es uns, ihren Eltern, nicht gut geht. Das dürfen sie auch merken, wir sollten ihnen aber nicht unsere Probleme aufbürden. "Sie können Ihren Kindern dann sagen: 'Mir geht es gerade nicht gut, aber das hat nichts mit dir zu tun und ich werde mich darum kümmern'", rät Elisabeth Raffauf. Für die Kinder sei es wichtig zu merken, dass ihre Eltern die Probleme angehen. So können wir ihnen vorleben, dass man etwas tun kann und nicht hilflos ist. Dabei spiele auch Selbstfürsorge eine wichtige Rolle. Und vielleicht gibt es in schwierigen Zeiten in der Familie oder im Freundeskreis auch andere Erwachsene, die dem Kind Halt und Schutz bieten können.
"Wenn Parentifizierung stattfindet, prägt das die Kinder auf jeden Fall. Aber es ist nie zu spät, das aufzulösen." Elisabeth Raffauf rät Eltern, im Rahmen der Selbstreflexion für sich aufzuschreiben, was ihnen selbst in den ersten 20 Jahren ihres Lebens gefehlt hat, was sie gebraucht hätten. Und sich dann zu fragen, was das mit den eigenen Kindern zu tun hat. Übertragen wir unsere Bedürfnisse möglicherweise auf sie? Geht es hier um einen Machtkampf? Kinder müssen gesehen werden, sie brauchen unseren Halt und unsere Fürsorge. "Es ist völlig normal, dass wir als Eltern Fehler machen", sagt die Expertin, "aber wir können uns entschuldigen und unser Verhalten ändern."
Wenn Jugendliche oder Erwachsene darunter leiden, dass sie als Kinder parentifiziert wurden, können sie selbst versuchen, mehr über sich zu erfahren. Sich selbst besser zu verstehen, ist oft schon sehr hilfreich. "Man kann auch eine Beratung für einen Austausch in Anspruch nehmen", sagt Elisabeth Raffauf. "Ein Weg, Parentifizierung für sich aufzulösen, kann aus drei Schritten bestehen: verstehen, Trauerprozess – eine Art Abschiednehmen davon, dass die eigenen Bedürfnisse nicht erfüllt wurden – und neu entscheiden. Also sich bewusst machen, dass man heute erwachsen und nicht mehr hilflos ist." Wenn Gespräche mit Freunden oder eine Beratung nicht ausreichend helfen, kann man sich auch in einer Therapie unterstützen lassen. Es gibt immer einen Weg!
Buchtipp zum Weiterlesen

In ihrem Buch "Erzieht uns einfach! Was Kinder und Jugendliche von ihren Eltern brauchen"* (Patmos, 19 Euro, zum Beispiel über amazon.de) zeigt Elisabeth Raffauf, warum Kinder nicht als Partnerersatz herhalten sollten und wie wir als Eltern ihnen stattdessen Halt geben können. Und auch wenn wir uns selbst mal überfordert fühlen, können wir das den Kindern kommunizieren und ihnen zeigen, dass sie nicht dafür verantwortlich sind, dass es uns gut geht.
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