
Auf den ersten Blick ist die Sache glasklar, wenn es um die Frage geht, ob man Kinder hin und wieder zwingen muss, damit sie das eine oder andere tun. Das einfache Motto lautet: Ein Kind muss rechtzeitig Erfahrungen machen, um später besser durchs Leben zu kommen.
Auf den zweiten Blick scheint die Angelegenheit, dass Kinder manchmal "zu ihrem Glück" gezwungen werden müssen, gar nicht mehr glasklar zu sein, wenn folgendermaßen argumentiert wird: Ein übermäßiger Druck auf die Kleinen (oder auch Größeren) ist nur dann anzuwenden, wenn alle anderen Versuche gescheitert sind.
Und auf dem dritten Blick hat das ursprünglich ach so unkomplizierte "Zwang – ja oder nein?" reichlich Zündstoff und Streitpotential, weil unzählige verschiedene Meinungen auftauchen, welcher Weg unter tausenden der beste sein könnte und für welche Lösung man sich entscheiden kann, will, soll, muss oder mag.
Allerdings...
War es denn früher einfacher? Wurden Kinder "anders" gezwungen?
Auf jeden Fall wurde nicht so viel Trara darum gemacht, ob der Teller leergegessen oder das Zimmer aufgeräumt werden muss. Die uneingeschränkte Autorität von Mama – und mehr noch vom Papa – führten Regie. Das bedeutete in den ersten Nachkriegsjahren noch: sanfte, auch mal saftige Prügel – wie damals im Schulalltag üblich. Das waren die Nachwehen von Zucht und Ordnung.
In den frühen Sechszigern wurde nicht mehr gehauen, auch nicht lange rumdiskutiert, dafür aber wirkungsvoll gehandelt. Und zwar mit Strafen. Oh mein Gott, daran kann ich mich noch gut erinnern und an den Kernsatz meiner Mutter: "Wenn Du nicht nicht..., dann!"
Wenn ich den Spinat ablehnte und sei es nur der letzte "Happs" hieß es: eine Stunde Mittagsschlaf! Schularbeiten nicht gemacht: zwei Stunden Mittagsschlaf! Hockeytraining geschwänzt: eine Woche kein Fernsehen. Zimmer nicht aufgeräumt: Taschengeld-Entzug.
Strafe musste sein. Gern begleitetet von solch segensreichen Sätzen wie "Wer nicht hören will, muss fühlen." Es gab bittere Momente, in denen ich mit meinem Dickkopf gegen Betonwände krachte. Für meine und die meisten Eltern dieser Generation ging es in erster Linie darum, den Kindern gehorchen beizubringen, und dazu gehörte auch der Zwang, etwas zu tun, wozu man überhaupt keine Lust hatte oder auch wirklich tiefgründig hasste – Spinat zum Beispiel. Ich war in diesem Machtkampf wie auch die meisten meiner Freunde Verlierer. Gehorsam, Gehorsam – über alles.
Der Umschwung
Mit den Studentenunruhen der 68er-Revolution veränderten sich nahezu alle jahrzehntelang mitgeschleppte pädagogische Prinzipien. Die elterliche Autorität mit all ihren abwegigen Begleiterscheinungen war plötzlich verpönt und wurde nun abgelöst vom partnerschaftlichen Miteinander in den Familien, was die Eigenart mit sich brachte: Über alles, wirklich alles, über Gott und die Welt wurde endlos diskutiert.
Diskutiert wurde auch über den Teller, der nicht aufgegessen war, über die Schule, die geschwänzt wurde, über die Zähne, die seit einigen Tagen nicht geputzt waren – am Ende hieß es allerdings jetzt und anti-autoritär: "Ach, ist schon in Ordnung, wenn du keine Lust hast, dann lass es."
Es war den Geisteswissenschaftlern klar, dass solch eine zwanglose Erziehung auf Dauer ein unorganisiertes Durcheinander auslösen und in ein Chaos ohne Achtung, Respekt und Regeln führen würde. Doch dazu kam es nicht. Deutschland erneuerte sich politisch, wirtschaftlich, kulturell. Dazu passt, dass Prügel, Strafen und die überzogene Eltern- und Lehrer-Autorität auf der Strecke blieben.
Der Aufschwung
Hilfreich war die rasante technische Entwicklung, der Blick nach vorn und die ständig steigenden, immer vielseitigeren Möglichkeiten der Lebensgestaltung sowie das Entdecken neuer Werte. Dazu gehörte ein ausgeprägteres Selbstbewusstsein der Eltern und bis heute anhaltend der Mütter, die zurück in ihren Beruf drängen, ohne sich den Vorwurf gefallen lassen zu müssen, die Kinder daheim zu vernachlässigen.
Ich wollte diesen Exkurs mit Ihnen gehen, damit Ihnen jetzt deutlicher wird, welche Bedeutung es heutzutage hat, die Kleinen zu etwas zu zwingen oder aber ihre Wünsche zu akzeptieren. Internet, Social Media, Smartphone sind dabei nicht nur Ablenkung, sondern auch Hilfe. Das alles will gesteuert sein. Und all das steuert sich nicht nach allgemein gültigen Regeln, sondern ausschließlich durch die Sichtweisen der Eltern, am besten "in Zusammenarbeit" mit den Kleinen und Großen daheim.
Wie komplex das Theme "Soll ich mein Kind zwingen?" geworden ist, möchte ich anhand von vier Beispielen erläutern. Zu jeder These gibt es ein Pro und ein Kontra. Sie sollen dann für sich entscheiden, wohin sie tendieren, und Sie werden im Gespräch mit anderen erfahren, wie unterschiedlich Zwang-Sichtweisen heutzutage sind. Nur eins steht beim letzten Blick auf dieses Thema fest: Es gibt kein Richtig oder Falsch!
Pro und Kontra
1) "Du machst erst Deine Schularbeiten"
PRO: Das ist doch wohl selbstverständlich. Erst die Pflicht, dann das Vergnügen. Schule hat Vorrang. Sport oder Spiele haben zu warten, egal wie lange die Schularbeiten dauern. Ausnahmen gibt es nicht. Und dann will ich auch noch einen Blick drauf werfen, ob alles okay ist.
CONTRA: Schule ist wichtig, aber nicht alles. Und natürlich kommt die Schule zuerst. Aber es gibt besondere Situationen, dass man davon abrücken muss. Zum Beispiel für ein wichtiges Fußballspiel. Ich schaffe meine Schularbeiten auch am Abend.
2) "Du ziehst eine Jacke drüber"
PRO: Es ist morgens ganz schön frisch, und der Wind pfeift um die Ecken. Ohne Jacke raus zu gehen, da kann man sich ganz schnell eine Erkältung aufsacken. Also, ohne Jacke heißt: Du bleibst zu Hause. Ich möchte Dich schützen.
CONTRA: Klar, jetzt kommt die kalte Jahreszeit und man muss sich warm anziehen. Aber was ich anziehe, möchte ich selbst entscheiden. Eine Jacke finde ich total doof. Ein Wollschal tut es auch.
3) "Das isst du auf!"
PRO: Was auf den Tisch kommt, wird gegessen und aufgegessen. Ich koche ja auch schon fast nur noch, was Du auch magst. Aber es ist eine Unsitte, immer einen klitzeleinen Rest auf den Teller übrigzulassen. Und den isst Du auf – egal, wie lange du hier sitzst.
CONTRA: Muss ich denn wirklich immer alles mögen, was da auf meinem Teller liegt. Darf ich denn nie sagen, ob das mag oder nicht? Und außerdem: Wenn ich nicht mehr kann, dann kann ich nicht mehr. Zwinge mich doch nicht.
4) "Du setzt einen Helm auf"
PRO: Egal, ob Fahrrad oder Waveboard – bevor du damit unterwegs bist, setzt du dir ohne Wenn und Aber den Helm auf. Es ist ohne einfach zu gefährlich und ich möchte mir nicht den Vorwurf gefallen lassen, ich hätte mich nicht um dich gekümmert, wenn etwas passieren sollte.
CONTRA: Immer diese Angsttuerei. Ich pass schon auf und mir passiert auch nichts. Mit Helm – da sehe ich echt beknackt aus. Und wenn mir doch was passiert, dann ist das meine eigene Schuld und nicht deine, Mama!
5) "Du machst einen Bildungsurlaub"
PRO: Wenn man bei einer englischen Familie Ferien macht, lernt man viel besser und intensiver Englisch als in der Schule. Fremdsprachen sind für Deine Zukunft total wichtig. Es bleibt genug Zeit für Freizeit und es ist schön, ein anderes Land kennenzulernen. Außerdem kostet das auch viel Geld.
CONTRA: In den Ferien auch noch lernen? Das ist doch wohl nicht Dein Ernst, oder? Ferien heißt, sich von der Schule und all dem Stress erholen und Spaß haben. Und wenn man keine Lust zum Lernen hat, dann lernt man auch nichts. Schade um das schöne Geld!