Hintergrund

Die unpopuläre Seite der Maria Montessori: "Wie man das perfekte Kind erschafft"

Maria Montessori ist auch heute noch in aller Munde. Eine ganze Erziehungsrichtung ist von ihr geprägt, es gibt Montessori-Spielzeug, Montessori-Kindergärten und -Schulen. Ein neues Buch enthüllt nun, wie sie das perfekte Kind schaffen wollte.

Maria Montessori mit ihrem Neffen und Schulkindern.© Getty Images/Kurt Hutton – Freier Fotograf
Maria Montessori und ihr Neffe schauen einem Schulkind dabei zu, wie es mit vebundenen Augen verschieden geformte Holzklötze in die entsprechenden Löcher einer Kiste steckt.

Einrichtungen, die sich heute nach den Lehren Maria Montessoris richten, bieten beispielsweise Alltagsmaterialien und bestimmte Formen an, die das Kind optimal in seiner Entwicklung unterstützen sollen. Das Bild am Anfang dieses Artikels entstand 1946 in London, als die italienische Ärztin und Biologin Maria Montessori mit ihrem Neffen ein Schulkind dazu anleitete und beobachtete, wie es mit verbundenen Augen eine Koordinationsübung durchführte. 

Maria Montessori – zur Person

Die katholische, italienische Ärztin und Biologin Maria Montessori lebte von 1870 bis 1952. Bekannt wurde sie durch ihre neuen Ansätze für den Umgang mit Kindern in der Schule. Dahinter steckten ihr Gedanke, ihr Wunsch nach dem perfekten Kind und der Glaube, dieses durch sozialtechnologische Eingriffe erschaffen und damit die Menschheitsrasse emporheben zu können. Durch diesen neuen Menschen sollte sich eine friedliche Neuordnung der Welt ergeben.

Perfektes Kind und die Erschaffung des idealen Menschen

Sämtliche Materialien dienen nicht dem Spiel, sondern dem beständigen Üben, um zu einem "optimalen" Wesen zu werden. Hinter all dem steckte offenbar der Wunsch nach dem perfekten Kind und damit Heil und Erlösung der Menschheit. Was bei ihrem Wunsch nach der Höherentwicklung der Menschen oft weniger in den Vordergrund gerückt wird, sind Begriffe wie "rassenrein", Idealmensch der "europäisch-weißen Rasse", "Eugenik" etc., auf die die Universitätsprofessorin und Autorin Sabine Seichter in ihrem neuen Buch "Der lange Schatten Maria Montessoris. Der Traum vom perfekten Kind"(siehe Buchtipp unten) hinweist. Hier zeigt sich, dass Maria Montessori den Anspruch verfolgte, einen neuen Idealmenschen zu schaffen, der unbedingt rein, perfekt, schön und gesund sein muss. Wie sie das zu erreichen wünscht?

  • Vor allem durch Sozialtechnologie: eine entsprechende Erziehung und eine perfekt vorbereitete Umgebung, in der sich Kinder durch Anpassung optimal entwickeln. Dabei sollte die "rational kalkulierte bestmögliche (An-)Ordnung der Umgebung in Montessoris Kinderhaus" das Kind unsichtbar steuern und führen, wie Sabine Seichter schreibt.
  • Erst bio- bzw. reproduktionstechnologisches Eingreifen in die Natur der Menschen (der Kinder) könne jedoch vollständig zum erwünschten Erfolg führen. Dies blieb zu ihren Lebzeiten ein Traum Maria Montessoris.

Durch Steigerung, Optimierung und Perfektionierung wünschte sich Maria Montessori, ein messiasähnliches Kind zu schaffen, das schließlich die Menschheit erhöhen und dadurch retten sollte. 

Was bedeutet Eugenik im Kontext Maria Montessoris?

Eugenik ist die Lehre der vermeintlich guten Erbanlagen, der Erbhygiene oder Erbgesundheit. In der Zeit des Nationalsozialismus war der Begriff quasi mit "Rassenhygiene" gleichzusetzen.

Maria Montessori traf zu Lebzeiten den Zeitgeist

Ihr übergeordnetes Ziel sei laut Sabine Seichter gewesen, die Menschheit vor Degeneration und Zerfall zu bewahren. Maria Montessoris Wirken begann zu einer Zeit, in der die Biologie als Leitwissenschaft galt, der Glaube an Darwins Evolutionstheorie ihren Höhepunkt hatte, die Eugenik populärwissenschaftlich anerkannt war und alles Abnormale in der Gesellschaft als Feindbild fungierte. So zog Montessori mit bildgewaltiger Sprache, die sie auch als Universitätsdozentin einem wissenschaftlichen Sprachduktus vorzog, eine große Anhängerschaft an. Ihr 1951, kurz vor ihrem Tod, gegründetes "Ministry of the Race", "Ministerium zur Verbesserung der menschlichen Rasse", in dem durch perfekte Bedingungen der optimale Mensch geschaffen werden sollte, zeigte abermals ihren unerschütterlichen Fortschritts- und Optimierungsglauben. Dieser leitete sie – ungeachtet der unter anderem in Italien und Deutschland während des Zweiten Weltkriegs ausgeübten Gräueltaten im Bereich der Eugenik – bis zu ihrem Tod.

Das Wunschkind ist kein Traum mehr, sondern Realität

Biotechnologische Verfahren, wie sie sich Maria Montessori – ihrer Zeit voraus – herbeisehnte, sind heute gängige Praxis. Im Rahmen der Präimplantationsdiagnostik bei künstlicher Befruchtung sind positive ("perfektes" Leben erzeugende) und negative (krankes Leben verhindern) Eugenik keine Ausnahme mehr. Das "Designer-Baby", wie es heute oft genannt wird, ist inzwischen biogenetisch machbar. Bei Maria Montessori war diese inzwischen wissenschaftliche Realität noch spirituell-religiös geprägt und motiviert.

Die Autorin Sabine Seichter vermutet, dass ihr bis heute anhaltender internationaler Erfolg genau dadurch zu erklären ist: Dass Maria Montessori immer schon daran glaubte, den Menschen durch (erzieherische) Eingriffe optimieren zu können. Mit ihrem Buch möchte Sabine Seichter mit oberflächlichen und falschen Einschätzungen über Maria Montessori aufräumen und bestätigt den Montessori-Experten Winfried Böhm, der "diesen verfälschenden Umgang mit pädagogischer Geschichtsschreibung anprangert".

Zugegeben, das Buch ist sehr wissenschaftlich aufgebaut und geschrieben, doch wer sich näher mit der Montessori-Pädagogik und ihren Hintergründen beschäftigen will, für den ist es genau richtig.