
Leben & erziehen: Was machen wir Eltern häufig falsch, obwohl wir es gut meinen?
Saskia John: Alle Eltern wollen grundsätzlich das Beste für ihr Kind. Und viele denken, sie wissen, was das Beste ist. Deswegen fragen sie auch nicht, ob ihr Kind eine bestimmte Sache oder Handlung überhaupt möchte. Etwas "gut meinen" bedeutet nicht, dass die elterliche Handlung dem Kind auch guttut oder dass das Kind das braucht.
Was steckt eigentlich dahinter?
Häufig verbirgt sich hinter dem "gut meinen" ein verstecktes Trauma. Eltern projizieren unbewusst ihre eigenen unverdauten Gefühle und Kindheitserfahrungen auf ihre Kinder. Dann drängen sie dem Kind etwas auf oder erwarten fordernd, dass das Kind etwas tut, was es aus sich heraus in dem Moment nicht tun würde. Hilfreicher wäre es, das Kind aktiv zu fragen und in die Entscheidung miteinzubeziehen: "Möchtest du das?" Denn Kinder wissen ganz genau, was sie essen oder anziehen wollen oder was ihnen guttut.
Also haben die Fehler, die wir als Eltern machen, mit unserer eigenen Kindheit zu tun?
Ja. Wenn ich mich als kleines Kind mit meinen Eltern nicht sicher und von ihnen nicht verstanden fühle, löst das – aufgrund der Abhängigkeit von den Eltern – eine existentielle Angst aus. Wenn kein Erwachsener da ist, bei dem ich mich wieder entspannen kann – weil die Eltern meinen emotionalen Alarmzustand nicht mitbekommen oder nicht in der Lage sind, mich emotional aufzufangen – dann bin ich als Kind mit meinen starken Gefühlen allein, fühle mich überfordert. Ich reguliere mich dann selbst, indem ich meine Gefühle abschalte, um mich vor emotionaler Überwältigung zu schützen.
Diese Folgen sind spätestens zu spüren, wenn ich erwachsen bin. Dann kann ich meine eigenen Kinder emotional nicht oder nur eingeschränkt wahrnehmen. Meine Kinder stoßen dann gegen meine Schutzmauern, die ich um meine Gefühle herum aufgebaut habe.
Können Sie ein Beispiel geben?
Viele Eltern kennen diese Situation am Morgen: Gestresst wollen sie ihr Kleinkind anziehen – es dauert ihnen zu lange, wenn das Kind es selbst versucht. Das Kind weigert sich, weil es sich allein anziehen will. Da die Eltern jedoch nicht genug Zeit haben, wächst der Stress auf beiden Seiten.
Dem Kind tut die Situation in zweifacher Hinsicht nicht gut: Zum einen wird sein Impuls und Wille, sich selbst anzuziehen, gehemmt. Wir stellen dem Kind sozusagen ein Stoppschild vor den eigenen Willen. Das blockiert den inneren Flow und führt im Kind zu Druck. Zum anderen empfindet es den elterlichen Stress als Härte gegen sich selbst. Das löst im Kind Angst aus und tut ihm emotional und vielleicht sogar körperlich weh, und es wird sich bestraft fühlen. Das Sicherheitsbedürfnis des Kindes ist in dem Moment nicht erfüllt. Die Antwort des Kindes: ängstlich-wütendes Weinen und Schreien.
Was macht das mit meinem Kind?
Wenn wir selbst diese Erfahrung gemacht haben und vielleicht hektisch und hart angezogen wurden, machen wir das oft mit unseren Kindern genauso. Das Kind lernt (unbewusst): Ich darf meinen Impulsen nicht folgen, meine Impulse sind unwichtig. Oder es schlussfolgert: Meine Mama zieht mich so hart an, also hat sie mich nicht lieb. Und: Ich bin schuld, bin zu langsam, ich kann das nicht. Da das Kind noch keine erwachsene Logik zur Verfügung hat, kann es nicht erkennen, dass seine Mutter durch die Gestaltung des Morgens ein Zeitproblem kreiert hat, deshalb gestresst ist und nicht mehr entspannt und liebevoll sein kann. Und dass das Kind nicht schuld ist an ihrer Entscheidung, wie sie den Morgen gestaltet und auch nicht an ihren sich daraus ergebenden Gefühlen.
Wie können wir vermeiden, in diese Fallen zu tappen?
Da unsere unbewussten Verhaltensmuster in solchen Momenten getriggert sind, können wir es zunächst nicht verhindern, diese "Fehler" zu machen. Aber ich kann an meinem eigenen Verhalten erkennen, dass ich in bestimmten Situationen über- oder unterreagiere: Dass ich laut und ungeduldig werde, mich komplett hilflos fühle oder emotional kalt bleibe, obwohl die Situation etwas anderes erfordert. Es ist wichtig, mir das Unbewusste bewusst zu machen. Dann kann ich mein Verhalten ändern und somit verhindern, dass sich mein konditioniertes Verhaltensmuster auf die nächste Generation überträgt und zum Dauerbrenner wird. Denn wenn ich immer wieder ärgerlich und überfordert bin und daran nichts ändere, wächst das Kind mit meiner Überforderung und allen sich daraus ergebenden Konsequenzen auf.
Was können wir konkret tun?
Die Fragen, die wir uns stellen sollten, sind: Warum bin ich überfordert? Warum bin ich gestresst? Woher kenne ich diese Verhaltensmuster schon? Was müsste ich an meinem Leben ändern, damit ich entspannt sein kann? Wenn ich nicht aktiv werde, wird mein Kind dieses Verhalten übernehmen. Wir müssen als Eltern eine Lösung finden.
Viele stellen sich diese Fragen nicht. Der tägliche Wahnsinn wird als normal beurteilt, da wir es nicht anders kennen. Aber das ist nicht normal. Er ist eine Folge von Trauma, von unverarbeiteten Erfahrungen aus meinem eigenen Leben oder dem meiner Vorfahren.
Macht es Sinn, sich Unterstützung zu holen?
Absolut, wenn ich spüre, dass ich damit überfordert bin und nicht den nötigen Abstand für Reflektionen habe. Coaches und Therapeuten können helfen, Wege zu suchen, die nach Innen und zur Traumaheilung führen. Dazu gehören beispielsweise Psychotherapie, Yoga, Tai Chi, Meditation, Autogenes Training oder Vipassana Retreat (Anm. d. Red.: Rückzug in die Stille). All die Methoden zielen darauf ab, den Menschen das tiefere Selbst bewusst zu machen. Wenn ich mich verstehe und die Bedürfnisse meines Inneren Kindes fühle, nehme ich auch die Bedürfnisse anderer wahr. Wenn ich nicht fühle, wie es (m)einem Kind emotional geht, ist das eine Folge meiner eigenen inneren Trennung.
Sollten wir mit unseren Eltern über die Situationen in der Kindheit sprechen?
Es ist sinnvoll, diese Dinge angemessen und auf erwachsene Weise – frei von Vorwurf, Forderung und Verurteilung – bei den Eltern anzusprechen. Manchmal braucht es mehrere Gespräche, bis der Inhalt von den Eltern in dem Sinne verstanden wird, wie er vom erwachsenen Kind gemeint ist. Doch wenn das Verständnis von den Eltern kommt, entsteht eine Erleichterung, meist auf beiden Seiten. Die Spannung geht raus, wenn Eltern sagen: "Es tut mir leid, dass ich dir das damals angetan habe". Dann kann eine alte emotionale Wunde, selbst wenn sie sehr groß ist, endlich heilen und braucht nicht weiterhin verdrängt werden. Es braucht Klarheit, gesunde Grenzen und ein Aussprechen der schmerzhaften Dinge, um eine gesunde und liebevolle Eltern-Kind-Beziehung zu gestalten. Sonst wird es nachhaltig anstrengend und leidvoll für die gesamte Familie.
Unsere Expertin

Saskia John ist Heilpraktikerin und führt seit fast 30 Jahren eine eigene Praxis in Teltow. Die Mutter von vier Kindern unterstützt Menschen auf ihrem Weg zu Heilung und spirituellem Wachstum. Zu ihren Klienten gehören viele Eltern, Lehrer und Erzieher.
Mehr Infos: saskiajohn.de