Expertenstimme

Immer dieser Streit!? Warum Eltern-Kind-Konflikte Hinweise auf mehr sind ...

In ihrem Buch "Konflikte nutzen statt vermeiden" geht die Autorin und Coachin Kiran Deuretzbacher darauf ein, wie Familien Streit klar, liebevoll und bindungsorientiert lösen und gleichzeitig die Eltern-Kind-Beziehung stärken können. Ein Auszug.

Eine Mutter und ihr weinender Sohn© iStock/ilkercelik
Konflikte in Eltern-Kind-Beziehungen sind völlig normal, aber können ganz schön am Nervenkostüm zerren. Die wirklichen Ursachen zu finden, kann erleichtern ... 

Auf einen Blick

Konflikte als Wegweiser: Konflikte entstehen, wenn unterschiedliche Wünsche, Anliegen und Bedürfnisse aufeinanderprallen. Manchmal sind wir uns dessen bewusst, oft aber auch nicht. Daher hier die wichtige Erinnerung: Konflikte weisen auf tieferliegende Anliegen hin.

Unterdrückte Bedürfnisse: In früheren Generationen wurde in der Erziehung meist Wert darauf gelegt, eigene Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche zu unterdrücken, um sich anzupassen und zu gehorchen. Dadurch haben viele Eltern einen erschwerten Zugang zu ihren eigenen Gefühlen und Bedürfnissen, was zu einem hohen inneren Druck führt. Dieser Druck entlädt sich oft in Konflikten mit den eigenen Kindern, die Ursache für diesen Druck ist aber nicht der Konflikt mit dem Kind, sondern die lange Unterdrückung der eigenen Gefühle und Bedürfnisse.

Versteckte Ursachen erkennen: Konflikte sind nur die Spitze des Eisbergs. Wer bereit ist, unter die Wasseroberfläche zu schauen, wird viel über seine eigenen Wünsche, Bedürfnisse und Anliegen erfahren.

Unterscheide zwischen Wunsch und Bedürfnis: Bedürfnisse sind grundlegend für die physische und psychische Gesundheit und bei allen Menschen ähnlich. Emotionale Bedürfnisse lassen sich auf die emotionalen Grundbedürfnisse nach Selbstwirksamkeit, Bindung, Sicherheit und Lustgewinn zurückführen. Wünsche sind individuell und auf Bedürfnisse zurückzuführen.

Wunsch und Bedürfniserfüllung: Je jünger die Kinder sind, desto hilfreicher ist es, auf die Bedürfnisse prompt und zeitnah einzugehen. Bei älteren Kindern und vor allem bei Erwachsenen ist es erst mal hilfreich, die Bedürfnisse bewusst und wertschätzend wahrzunehmen. Erst im zweiten Schritt kann es dann um die Bedürfniserfüllung gehen, die mal schneller und mal langsamer in einem Familienleben möglich ist. Wünsche ernst zu nehmen ist schön und wichtig, doch nicht jeder Wunsch muss erfüllt werden. Manchmal ergibt es auch mehr Sinn, zu schauen, welches Bedürfnis eigentlich unter dem Wunsch verborgen ist.

Konflikte sind Hinweise auf mehr

Konflikte entstehen dort, wo Wünsche, Anliegen und Bedürfnisse aufeinandertreffen. Manchmal sind uns die Wünsche und Bedürfnisse sehr bewusst, z. B., wenn unser Kind morgens früh aufstehen und spielen möchte, wir aber noch müde sind und weiterschlafen wollen. Dann stehen beide Anliegen nebeneinander: Das Kind will aufstehen und spielen – der Elternteil liegenbleiben und schlafen.

Es gibt aber auch Situationen, in denen wir uns unseres Anliegens (noch) nicht bewusst sind. Kennst du solche Situationen, in denen du plötzlich aus der Haut fährst? Zum Beispiel: "Immer dieses Theater am Abend, warum können die Kinder nicht einfach einmal ohne Streit ins Bett gehen?" Gerade neulich erzählte mir eine befreundete Mutter, dass sie beim friedlichen Abendessen wegen einer Kleinigkeit in die Luft gegangen ist: Die Apfelsaftschorle war nicht im richtigen Verhältnis gemischt. Im Nachhinein konnte sie herausfinden, dass ihre große Müdigkeit, Konflikte am Arbeitsplatz und mangelnde Wertschätzung die Ursachen für ihren plötzlichen Ausbruch waren. Die Apfelsaftschorle war nur der Auslöser.

Die klassische Erziehung früherer Generationen zielte auf Anpassung, Gehorsam und Fleiß; die eigenen Bedürfnisse und Anliegen der Kinder hatten da keinen Platz. So haben viele von uns nie gelernt, eigene Bedürfnisse, Wünsche und Anliegen ernst zu nehmen. Im Gegenteil, es ging darum, sie zu unterdrücken und sich anzupassen. Als Ergebnis haben heute viele Erwachsene keinen Zugang zu ihren Gefühlen und Bedürfnissen.

Wenn wir dann Eltern werden, berühren uns unsere Kinder plötzlich sehr intensiv an diesen Stellen und wir erleben mit unbändiger Kraft all das, was nie Platz haben durfte und wozu wir keinen Zugang mehr haben. Wie wenn du versuchst, einen aufgeblasenen Wasserball unter Wasser zu drücken. Es kostet viel Kraft, und für eine Weile kann man es schaffen. Aber sobald du ein wenig loslässt oder noch ein wenig nachdrückst, kommt der Ball mit ordentlich Druck an die Wasseroberfläche und schießt weit in die Luft.

So oder so ähnlich geht es vielen Menschen mit ihren eigenen Bedürfnissen, Gefühlen und Anliegen. Sie wurden jahrelang mit viel Druck unter der Wasseroberfläche gehalten, und jetzt, im Alltag mit Kind, passiert es immer wieder, dass sie mit aller Kraft an die Oberfläche kommen – und das erschreckt viele. Als Reaktion wird dann meist versucht, den Ball (die Gefühle) mit noch mehr Kraft wieder nach unten zu drücken, auch, um Konflikten mit aller Kraft aus dem Weg zu gehen. Denn die Angst vor der ganzen Wucht des Wasserballs ist groß.

Doch Überraschung: Das ist nicht die ideale Lösung. Viel hilfreicher ist ein anderes Bild: Der Konflikt, den du mit deinem Kind hast, ist die Spitze eines Eisbergs. Und unter der Eisbergspitze sind viele wichtige Dinge verborgen. Der größte Teil des Eisbergs liegt unter der (Wasser-)Oberfläche, wie auch ein großer Teil eurer Konflikte. Wichtig ist, dass du dann nicht allein auf der Konfliktebene bleibst und dich über das Verhalten und den Konflikt ärgerst und empörst. So können Konflikte die Beziehung zu deinem Kind belasten.

Schau stattdessen unter die Wasseroberfläche, auf den Rest des Eisbergs, dann kannst du viel über dich und dein Kind lernen. Dann wächst die Bindung zwischen dir und deinem Kind, dann überwindet ihr Konflikte gemeinsam.

Eine Illustration über Eltern-Kind-Konflikte© Aus dem Buch "Konflikte nutzen statt vermeiden"

Der Unterschied zwischen Wunsch und Bedürfnis

Bedürfnisse haben alle Menschen gleichermaßen. Es ist wichtig für die körperliche und seelische Gesundheit, dass Bedürfnisse beachtet und weitgehend befriedigt werden. Körperliche Bedürfnisse sind Hunger, Durst, auf die Toilette zu gehen oder zu schlafen. Die für mich wichtigsten vier emotionalen Bedürfnisse sind: Selbstwirksamkeit, Verbundenheit, Sicherheit und Lustgewinn.

Wünsche sind individuell, sie sind nicht bei allen Menschen gleich. Oft steckt hinter einem Wunsch ein Bedürfnis. Darauf gilt es zu achten.

Das Ernstnehmen der eigenen Wünsche und der Wünsche des Kindes führt zu einer tieferen Verbindung. Gleichzeitig müssen Wünsche nicht zwangsläufig erfüllt werden. Oft reicht es schon, darüber zu sprechen und zu schauen, welches Bedürfnis dahintersteckt.

Stell dir vor, du gehst mit deinem Kind nach dem Kindergarten in den Supermarkt, es möchte unbedingt eine Schokolade. Der Wunsch ist die Schokolade, das Bedürfnis dahinter könnte Hunger sein, vielleicht auch Müdigkeit oder Selbstwirksamkeit. Dem Wunsch nach der Schokolade musst du nicht unbedingt nachkommen (kannst du aber), doch die Bedürfnisse dahinter solltest du ernst nehmen.

Jeder Konflikt ist auch ein Geschenk 

Jonas geht seit ein paar Wochen in die 2. Klasse. Er kommt von der Schule nach Hause, stellt seinen Ranzen in die Ecke und weigert sich auch nach mehrmaliger Aufforderung, ihn aufzuräumen. Seine Mutter wird wütend und droht ihm.

Jetzt kann sie an der Spitze des Eisbergs bleiben und den Konflikt entweder ignorieren oder eskalieren lassen. Oder sie kann bereit sein, unter die Wasseroberfläche zu schauen und im Gespräch herausfinden, dass er sich mit seinem Freund Tim gestritten hat und außerdem die Mathearbeit heute schwerer war als gedacht. Weil er sich über den Streit so geärgert hat, hat er sich keine Zeit zum Essen genommen. Jonas ist also erschöpft, frustriert und hungrig. Seine Mutter horcht genauer in sich hinein und merkt, dass sie sich vor allem darüber geärgert hat, dass ihr Sohn nicht auf sie gehört hat. Außerdem hatte sie heute Morgen viel Stress und ist ebenfalls nicht zum Essen gekommen.

Der Konflikt ist sozusagen der Wink mit dem Zaunpfahl dafür, dass beide Hunger haben und dringend eine Pause brauchen. Vielleicht merkt Jonas Mutter auch, dass es sie zwar schon gestört hat, dass Jonas ihr nicht zugehört hat, aber eigentlich waren es heute Morgen ihr Kollege Ralf und am Abend zuvor die Schwiegermutter, die ihr nicht zugehört haben – sie hat das nur auf Jonas projiziert.

Kennst du solche Situationen? Blick einmal zurück, was du beim letzten Konflikt mit deinem Kind über es erfahren hast. Was war unter der Eisbergspitze deines Kindes versteckt? War es müde? War es frustriert? Hat es sich nicht ernst genommen gefühlt? Wollte es selbst bestimmen oder vielleicht Nähe und Sicherheit?

Dieser Gastartikel ist ein Kapitel aus dem folgenden Buch von Kiran Deuretzbacher: