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Musik schafft Verbindung, drückt Leidenschaft aus, über sie kann man kommunizieren. Wir haben mit der Musikpädagogin Tanja Conrad über die zauberhafte Wirkung von Musik gesprochen und wie sie uns den Familienalltag erleichtern kann. Darüber hat sie jüngst ein Buch geschrieben.
Musizieren mit Kindern – warum ist Musik in Familien so wichtig, liebe Tanja Conrad?
Tanja Conrad: Zunächst ist es wichtig, Musik in diesem Zusammenhang zu definieren. Wovon sprechen wir – vom Lernen eines Instruments, von Leistung und Ergebnisorientierung oder davon, Musik und Rhythmus (wieder) Teil unseres Alltags werden zu lassen, der uns ganz natürlich begleitet? Eben dieser zweite Ansatz ist der, den ich mit meinem Buch vermitteln möchte. Musik ist kein Luxusgut einer intellektualisierten Gesellschaft. Musik ist tief in unsere menschliche Matrix geschrieben und auch das Bedürfnis, uns über sie auszudrücken.
Wenn wir dieses Bedürfnis nicht mehr spüren können, verlieren wir, kurz gesagt, unseren inneren Takt, unseren ganz persönlichen Rhythmus, unsere Lebensmelodie. Kaum jemandem ist bewusst, welche Zauberkräfte die Musik für uns Familien bereithält. Wenn wir wieder miteinander singen, rhythmische Quatschreime erfinden, um den Weg zum Kindergarten für alle entspannter zu gestalten, oder uns ein Seil zum Springen schnappen, wenn uns die Wut packt, wird das Leben leichter. Wir spüren wieder, was wir brauchen, um uns wohl und uns mit uns und anderen verbunden zu fühlen. Musik schafft (Ver-)Bindung.
Inwiefern kann Musik verbinden, also diese Verbindung herstellen?
Beginnen wir zunächst mit dem menschlichen Gehirn. Beim Musizieren werden alle Hirnareale aktiviert, wusstet ihr das? Ich war selbst überrascht, als ich das las: Keine andere menschliche Aktivität ist dazu in der Lage! Studien belegen, dass die Hemisphären, also Gehirnhälften, von Berufsmusiker*innen besser vernetzt sind als die von Nicht-Musiker*innen. Und diese Art der Verbindung spiegelt sich auch im Leben von Menschen wider, für die Musik und Rhythmus ein wichtiger und aktiver Bestandteil ihres Alltags sind.
Ich nutze dazu gern das Beispiel der Fan-Kurve im Fußballstadion – wie kann es eigentlich sein, dass es einer riesigen Menschenmenge gelingt, über den gemeinsamen (Sprech-)Gesang innerhalb kürzester Zeit ein Wir-Gefühl zu erzeugen? Das gemeinsame Singen und Musizieren versetzt uns emotional in die Lage, uns aufeinander einzustellen, miteinander zu schwingen. Uns wieder zuzuhören, in Kooperation zu gehen und neue Perspektiven zu erforschen. Auch wenn ich als ehemalige Berufsmusikerin – ich war 25 Jahre Opern-Solistin – nur selten von diesem Effekt profitieren konnte, da, wie es der Neurobiologe Gerald Hüther betörend zusammenfasst, nur das "absichtslose Singen Dünger für das Kinderhirn" ist, plädiere ich dafür, dass Kinder in einem Chor singen oder ein Instrument ihrer Wahl lernen und mit anderen gemeinsam musizieren. Nichts wirkt gewaltpräventiver und verbindungsfördernder.
Kann Musik also zu guter Kommunikation beitragen?
Wie schon gesagt – wer musiziert, muss zunächst zuhören, sich einfühlen. Wie klingt mein Instrument? Wie das der anderen Person? Wie schnell singen wir eigentlich, wenn wir gemeinsam singen? All das geschieht größtenteils unbewusst, aber es geschieht! Wir üben, ohne es zu merken, uns aufeinander einzustellen, uns zuzuhören und uns einzufühlen. Und genau das ist gelingende Kommunikation! Wir lernen auch etwas über unsere Bedürfnisse und die der anderen Menschen und darüber, dass diese Bedürfnisse absolut gleichwertig sind. Was nützt es uns, wenn wir schneller rappen als der oder die andere, wenn wir am Ende ein Ergebnis haben, das überhaupt keine gute Laune macht? Menschen sind mit einem natürlichen Bedürfnis geboren zu kooperieren. Und das spüren wir endlich wieder, wenn wir uns der Musik hingeben.
Wie schaffen wir es, Musik wieder im (hektischen) Familienalltag zu integrieren?
Was für eine wichtige Frage! Meine Cousine, Freundin und Kollegin Patricia hatte nach der ersten Durchsicht meines Buch-Manuskripts angemerkt, dass mein Hinweis, dieses Buch solle die To-do-Listen von Familien nicht noch länger machen, sondern ihr Leben leichter, direkt am Anfang stehen müsse. Und wie recht sie hatte!
Alles, was unser Leben komplizierter macht, darf gehen! Und damit auch Ratgeber, die uns dazu auffordern, mehr noch besser in noch kürzerer Zeit zu machen. Deshalb ist dieses Buch meine Einladung an Eltern und pädagogisches Personal, die To-do-Listen gegen Muße und Muse einzutauschen. Wenn die eine oder der andere nun denkt: "Leicht gesagt!", dann verstehe ich das sehr sehr gut. Mir ging es auch so, und ich erlebe es auch jetzt als Soloerziehende immer mal wieder. Dann erinnere ich mich an meine eigenen Ideen aus dem Buch, so komisch das vielleicht klingen mag. In diesen Momenten darf die Zeit wieder stillstehen und unsere Bedürfnisse rücken in den Fokus. To-dos und Verpflichtungen haben Pause. Denn auch darum geht es: Wie finden wir überhaupt wieder den Raum, die Zeiträume, um Neues auszuprobieren, wie zum Beispiel ein musikalisches Ritual, das Orientierung bietet und Spaß macht? Ich möchte dazu beitragen, dass wir alle den Mut zur To-do-Lücke auch in schwierigen Situationen finden, ohne im Alltagschaos zu versinken – um dem "Homo musicus" in uns wieder Raum zu geben. Und damit der Freude und der Leichtigkeit in unseren Familien.
Und wenn man denkt, dass man nicht singen kann und nicht musikalisch ist?
Tatsächlich tragen wir alle einen Homo musicus in uns, der entdeckt und gelebt werden will. Dass wir nicht singen könnten, entspringt oft alten, aus der Kindheit übernommenen Geschichten, die wie viele andere Geschichten schlichtweg nicht wahr sind. Wer entscheidet denn, was "musikalisch" ist?
Ich erinnere mich an einen kleinen Jungen in meiner Singschule "Singvögelchen". Er konnte kaum mehr als drei Töne mit seiner Stimme krächzen. Und es war wunderbar! Der Junge hatte so viel Freude an der Musik, und auch wenn es ihm anfangs so schwerfiel, in einen Takt zu finden – wie gut tat es ihm, sich ohne bewertet zu werden, musikalisch auszudrücken und immer mehr zum Teil des Gesamtklangs zu werden. Denn genau darum geht es beim Musizieren: um die Freude und den gemeinsamen Selbstausdruck mit anderen!
Übrigens ist die Stimme der Mutter immer die allerschönste, tröstendste für ein Baby! Studien konnten das eindeutig belegen. Und dabei kommt es definitiv nicht auf die objektiven musikalischen Qualitäten der Stimmen an, wenn es die überhaupt gibt.
Was Musik so wichtig macht
Tanja Conrad ist überzeugt, dass jeder Mensch einen eigenen Rhythmus hat, uns die Musik also quasi im Blut liegt. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass Musik und Kunst kreatives und abstraktes Denken bei Kindern und Jugendlichen nachhaltig fördern. Durch musische und künstlerische Tätigkeiten und die neuronalen Strukturen, die dadurch entstehen, können Kinder auch in anderen Fächern bessere Leistungen erzielen. Umso absurder erscheint die aktuelle Bildungsreform in Bayern, die gefühlsbetonte Fächer wie Musik, Kunst und Werken zugunsten der kopfgesteuerten Hauptfächer (Deutsch, Mathe, Englisch) kürzt. Tanja Conrad plädiert dafür:
"Wir sollten der Musik und dem Singen wieder einen Stellenwert geben. Sie sind ein Nährboden und Booster für Kreativität und selbstständiges Denken. Und beides benötigen wir, um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu begegnen."
Genau dafür brauchen wir eben die Musik, da sie uns mit unserer eigenen, inneren Stimme in Kontakt bringt, wir durch sie spüren, wer wir sind und welche Werte uns wichtig sind und sie uns die Fähigkeit schenkt, auch unseren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Das ist es doch, was wir uns für unsere Kinder wünschen, oder?!
Wie können wir unserer eigenen Natur wieder näherkommen und welche positiven Auswirkungen hätte das – in der Familie, aber auch gesamtgesellschaftlich?
Diese Ebene liegt mir zutiefst am Herzen. Meine ganze Arbeit als Mentorin für Mütter, Trainerin der Gewaltfreien Kommunikation, Journalistin und Pädagogin zielt darauf ab, Eltern und Kolleg*innen dabei zu unterstützen, sich selbst immer besser zu verstehen, sich mit sich und anderen täglich mehr zu verbinden. Denn das ist die Voraussetzung für ein gelingendes Leben – in der Familie, der Gesellschaft und sogar weltweit.
Wenn es uns gelingt, unsere Familien zu Orten der Verbindung, Freude und Kooperation zu machen, statt uns im ewigen Hamsterrad nach fremden Rhythmen auszurichten und aufzureiben, könnten Konflikte zu Lösungen führen, statt in Kriegen zu münden. Ob das naiv ist? Nein! Wir Menschen tragen tief in uns das Bedürfnis, zum Wohl der Gemeinschaft beizutragen. Und das gelingt am allerbesten, wenn wir zunächst unsere eigenen Bedürfnisse spüren und Wege finden, sie zu erfüllen. Wenn es uns dann noch gelingt, die Bedürfnisse anderer als genauso wichtig anzuerkennen wie unsere, sind wir bereit, uns mit anderen zu verbinden, um Lösungen für unsere (globalen) Herausforderungen zu finden.
Kurz: Wenn es gelingt, unsere Bedürfnisse und die der anderen zu spüren und zu erkennen, dass wir sie in Kooperation am besten erfüllen können, entsteht tiefe Verbindung. Der Schlüssel für ein glückliches (Familien-)Leben.
Wie kann Musik uns konkret in der Familie helfen zu heilen?
In einer Gesellschaft, in der wir um den Verstand und seine Leistungen tanzen wie um ein goldenes Kalb, was nicht wenige Menschen regelmäßig in den Burn-out treibt, ist die Musik ein wunderbarer und sehr effektiver Kontrapunkt mit ihrer Fähigkeit, Gefühlen Raum zu geben, Kreativität und Kooperation zu fördern. Musik und Singen schaffen Gemeinsamkeit und fördern die Fähigkeit, sich aufeinander einzustimmen und sich zuzuhören. Musik bringt auch Leichtigkeit in unser Leben – eine oft übersehene Super-Ingredienz des Familienglücks. Wusstet ihr, dass man nicht gleichzeitig Angst haben kann, während man singt? Musizieren entspannt unser Angstzentrum und macht uns damit, und ich halte das absolut nicht für übertrieben, zu "besseren" Menschen. Und die wollen wir doch sein, wenn es um die Familie und unsere Kinder geht, oder?
Wie finden wir unsere eigene Lebensmelodie – und was verstehst du darunter genau?
Jeder Mensch ist mit einem ureigenen Rhythmus, mit einem einzigartigen Lebenstakt geboren. Wir kommen ihnen auf die Spur, indem wir in uns hineinhören. Konkret und ganz praktisch ausgedrückt, können wir uns Fragen stellen wie: Wo will ich/wollen wir als Familie leben? Brauche ich/wollen wir das Sausen und Toben der Großstadt oder lieben wir es, dem Vogelkonzert am Sonntagmorgen in einem kleinen schwedischen Vorort zu lauschen? Ziehe ich/ziehen wir es vor, viel Zeit in unserer Kernfamilie zu verbringen oder kann ich/können wir die nächsten Gäste kaum noch abwarten?
Es gibt eine ganze Reihe solcher Fragen, deren Antworten zusammen die Familienmelodie ergeben. Zumindest, wenn alle gehört werden! Ich bitte meine Klientinnen immer zu prüfen: Lebe ich nach meinen Rhythmen oder folge ich einer Melodie aus meiner Kindheit, aus der ich längst herausgewachsen bin? Wie geht es meinem Partner oder meiner Partnerin? Wo fühlt sich ihr oder sein Leben stimmig an und wo stockt, kratzt oder hakt es? Ich durfte oder musste selbst die Erfahrung machen, dass unterschiedliche Lebensmelodien und Rhythmen zu Trennung führen können – wenn wir uns nicht früh genug und sehr bewusst darum bemühen, Gegensätze und Gemeinsamkeiten zu erforschen und in eine Familienmelodie münden zu lassen. Dabei ist es von großer Bedeutung, dass alle Familienmitglieder darin vorkommen – und viel Raum für Soli bleibt.
Was möchtest du uns Eltern noch mitgeben?
Es ist wichtig, mit uns selbst und anderen zu jeder Zeit gnädig zu sein. Marshall B. Rosenberg, der Begründer der Gewaltfreien Kommunikation, soll gesagt haben: "Wir tun zu jeder Zeit unser Schönstes und Bestes." Mir gibt dieser Satz in herausfordernden Momenten die Kraft, nicht aufzugeben und mich daran zu erinnern, dass Menschen nun mal Fehler machen und ich immerhin noch aus ihnen lernen kann. Und sie zuzugeben, vor uns und unseren Kindern, bedeutet, dass wir Verantwortung übernehmen – und damit dem Haus unseres Familienglücks einen weiteren Grundstein hinzufügen.
... Tanja Conrad ist Pädagogin und Expertin für gewaltfreie Kommunikation (gfK) mit Kindern. Außerdem studierte sie Musikpädagogik, Journalismus, Opern- und Konzertgesang. Kürzlich ist ihr Buch erschienen (siehe Buchtipp unten).