
Zum Gastautoren
Dr. med Thomas Fischbach ist Kinderarzt mit einer Praxis in Solingen. Von 2015 bis 2023 war er zusätzlich Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte. Das Amt gab er aus Zeitgründen ab. Er ist verheiratet und hat drei mittlerweile erwachsene Kinder.
Wenn mich Eltern in meiner Solinger Praxis besuchen, die sich Sorgen wegen vermeintlicher Entwicklungsverzögerungen ihrer Kinder machen, dann erzähle ich manchmal diese Geschichte aus unserer eigenen Familie: Bei der Geburt unseres ersten Kindes war ich gerade im ersten Weiterbildungsjahr zum Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, seinerzeit aufgrund meiner Facharztqualifikation als Anästhesist vorwiegend auf der Pädiatrischen Intensivstation und Neonatologie eingesetzt. Unser Sohn war behäbig und zufrieden, er schlief 16 Stunden am Tag und Bewegung schien ihm ein Graus zu sein. Die Bauchlage fand er offensichtlich furchtbar. Nie machte er Anstalten zu krabbeln, und auch der Bewegungsübergang vom Sitzen in die verhasste Bauchlage schien verbesserungsbedürftig.
Gut gemeinte Ratschläge zum Thema Krabbeln und Co
Meine Frau erlebte ein Trommelfeuer guter Ratschläge, weil ja Krabbeln so wichtig für die Entwicklung sei. Sätze wie "Kinder, die nicht krabbeln, sind später schlecht in Mathe" oder "... bleiben ein Leben lang Bewegungslegastheniker" trugen sehr zur Verunsicherung bei. Auch wurde seine Sprachentwicklung kritisiert. "Da ist er ganz klar zurück. Was sagt denn eigentlich euer Kinderarzt dazu ...?"
Wenn meine Frau dann auch noch antwortete, dass der Vater Kinder- und Jugendarzt sei, blickte sie in fassungslose Gesichter. Heute ist unser Sohn erwachsen, hat erfolgreich eine Bankausbildung absolviert und einen Master of Science in Finance erworben. Zahlen sind ebenso sein Ding wie der Sport. Er spielt leidenschaftlich Volleyball und hat eine Qualifikation als österreichischer Landesskilehrer. Damit fährt er besser rückwärts Ski als ich vorwärts – und ich bin gekrabbelt.
Was ich damit sagen will: Die kindliche Entwicklung verläuft nicht in engen Rastern, sondern mit einer großen Variabilität. Sogenannte "Meilensteine" können lediglich als Anhaltspunkte dienen, um normvariante von krankhafter Entwicklung abzugrenzen.
Vergleiche unter Eltern über die motorische Entwicklung verunsichern
Damit sind die meisten Eltern zumeist aber vollkommen überfordert, wenn sie (ob sie wollen oder nicht) an der "Entwicklungsolympiade" ihres Nachwuchses teilnehmen müssen, weil sie von selbst ernannten Experten in die Zange genommen werden. "Gut gemeinte" Sprüche solcher Supermütter auf dem Spielplatz wie "Ach, er krabbelt noch nicht!" oder "Eigentlich müsste ein Kind im Alter eurer Tochter besser sprechen" führen insbesondere bei frischgebackenen Eltern zu großer Verunsicherung.
In meinen 27 Praxisjahren habe ich schon alles Mögliche zu Ohren bekommen bis hin zu barem Unsinn. Dabei gibt es gesunde Kinder, die bereits mit neun Monaten frei laufen, während andere das erst mit 16 oder 18 Lebensmonaten tun. Manche Kinder singen mir mit zwei Jahren ganze Liedstrophen vor, während es andere gerade einmal auf einen Zweiwortsatz wie "Mama – Auto" bringen.
Jedes Kind ist anders – gut so!
Das ist vollkommen in Ordnung. Denn nicht nur jeder Mensch ist anders, sondern auch jedes Kind. Meine Bitte: Seid bei der Bewältigung der Entwicklungsaufgaben eures Kindes geduldig, lasst ihm Zeit. Die meisten Kinder sind zum Glück völlig gesund. Laufen, sprechen, essen, schlafen können sie am Ende (fast) alle. Und wenn ihr euch wirklich sorgt, fragt bitte jemanden, der etwas davon versteht: euren Kinder- und Jugendarzt!
Bitte nicht hochziehen oder zum Krabbeln "zwingen"!
Die meisten Babys krabbeln rund um den neunten oder zehnten Lebensmonat. Aber wie schon im Text oben beschrieben, sollten sich Eltern bitte nicht unter Druck setzen, wenn ihr Baby mit beispielsweise elf Monaten noch nicht krabbelt. Es gibt durchaus auch Kinder, die nie krabbeln und direkt vom Robben ins Laufen übergehen. Ein Grund zur Sorge? Nein! Das Baby hat sich einfach einen anderen Weg zum Ziel gesucht: dem Laufen auf zwei Beinen.
Gern können Eltern ihr Baby zum Krabbeln ermuntern, aber bitte immer positiv. Babys werden durch sinnliche Reize "angelockt": ein Quietscheentchen, eine bunte Rassel, ein neues Spielzeugauto oder einfach das lustige Gesicht von Mama oder Papa. Begebt euch in die Bauchlage und seid auch gern mal Cheerleader für euren Schatz, aber bitte immer ohne Stress. Ein Lob und Lächeln für zurückgelegte Zentimeter können das Baby zusätzlich motivieren.
Sollte sich das eigene Kind bis zum ersten Geburtstag noch gar nicht fortbewegen wollen, solltet ihr mit dem Kinderarzt Rücksprache halten. Aber bis dahin erfolgen ohnehin einige U-Untersuchungen, bei denen immer auch die motorische Entwicklung auf der Agenda steht.