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Irgendwann trifft es alle Eltern, aber der Umgang damit ist sehr unterschiedlich: Die Kinder sind selbstständig geworden und ziehen aus. Und plötzlich stehen die Eltern nach etwa zwei Jahrzehnten wieder alleine da. Eine ganz schöne Veränderung, die manchmal nicht ganz leicht zu bewältigen ist. Wir wollten von der Familienpsychologin, Buchautorin und Mutter Nina Grimm wissen, was es mit dem Empty-Nest-Syndrom auf sich hat.
Die neue Lebensabschnittsphase kann stark verunsichern
"Konkrete Symptome, die mit dem Empty-Nest-Syndrom einhergehen, sind nicht durch Studien gesichert", erklärt Nina Grimm gleich zu Anfang unseres Gesprächs. Vielmehr handle es sich um eine komplexe Gefühlslage, die durch den Beginn dieses neuen Lebensabschnitts, einer neuen Etappe, ausgelöst wird. Es könne sogar sein, dass Eltern unmittelbar nach dem Auszug ihrer Kinder erst mal ein Hochgefühl erleben, das dann aber oft kippt. Viel häufiger sei jedoch der Fall, dass vor allem Mütter nach dem Auszug ihrer Kinder erst mal in ein Loch fallen.
Sie fühlen dann vor allem eine große Leere, das Haus kommt ihnen plötzlich so groß vor, sie sind überfordert mit der ganzen Zeit, die sie auf einmal haben, da sie nicht (mehr) wissen, womit sie sie füllen sollen. Sie fühlen sich oft erdrückt von der neuen, ungewohnten Situation. Waren sie es – oft über Jahrzehnte hinweg – gewohnt, für andere da zu sein, sich um sie zu kümmern, den Alltag für andere mitzuschmeißen, fällt diese Aufgabe mit dem Auszug der Kinder auf einmal weg. Nina Grimm:
Rollenwechsel sind Steilvorlagen für Krisen!
Auf einmal fällt ein großer, wenn nicht sogar der Hauptanteil des Lebensinhaltes weg. "Es kommt zu einem Identitätsverlust und zu einer Rollendiffusion", so die Expertin. Viele Frauen wissen zunächst nicht mehr, wer sie ohne ihr Kind sind, wie sie sich definieren, was ihnen wichtig ist, worauf es ihnen im Leben ankommt. Das kann erst mal ganz schön verwirrend sein, verunsichern und einem gefühlt den Boden unter den Füßen wegziehen.
Selbstwert und Identität fallen weg
Da in der Elterngeneration, deren Kinder jetzt ausziehen, immer noch hauptsächlich die Mutter die Care-Arbeit geleistet hat, sind Mütter eher vom Empty-Nest-Syndrom betroffen als Väter. Es kann aber auch beide treffen. "Mit dem Auszug des letzten Kindes fällt für viele Mütter eine wichtige, selbstwertstabilisierende Säule weg. Es kann sich auch anfühlen wie Liebeskummer", erklärt die Familienpsychologin. "Kinder sind für viele Frauen identitätsschaffend, sie erhalten ihre Bestätigung und ihre Wertschätzung aus diesem Bereich". Da kann einem erst mal ganz schön etwas fehlen.
Den Schmerz fühlen
Wie man damit am besten umgeht? Nina Grimm plädiert dafür, den Schmerz zunächst zuzulassen:
Dieses neu entstandene Vakuum darf sich erst einmal instabil, wackelig und unsicher anfühlen. Nehmt euch Zeit, den Abschied auch zu betrauern. Eine Lebensetappe endet, der Verlust ist da. Lasst es zu, aber versackt nicht darin, sondern schlagt dann auch den Bogen und schenkt euch selbst die Wertschätzung, die ihr braucht.
Die Expertin rät dazu, sich, wenn es schmerzt, ganz konkret und aufrichtig zu fragen, was man aus der Beziehung zum Kind zieht und ob das dort hineingehört (zum Beispiel das Gefühl, wichtig zu sein oder gebraucht zu werden).
Es sei eine großartige Chance, sich selbst noch einmal neu zu definieren, neu kennenzulernen und wieder ureigenen Interessen nachzugehen. "Habe ich es beispielsweise jahrelang vermisst zu malen oder wollte ich schon immer diese neue Sprache lernen? Kann ich eine alte Freundschaft aufleben lassen?" Jetzt könnte der perfekte Moment dafür sein.
Frauen sollten sich nun ehrlich fragen, wer sie fernab der Mutterrolle sind und auch diese Facetten wieder stärker ins Leben integrieren.
Dazu rät die Psychologin. Weitere hilfreiche Fragen:
- Was möchte ich mit meinen neuen zeitlichen Ressourcen machen?
- Wie möchte ich den frei gewordenen Raum (auch das Zimmer des Kindes) nun gestalten?
- Was habe ich an der Care-Arbeit so geliebt? Und wie kann ich diesen Aspekt vielleicht auch weiterhin leben, nur in einem neuen Feld?
- Was sind meine Qualitäten?
- Was macht mir wirklich Spaß?
- Was ist in den letzten Jahren zu kurz gekommen?
Daraus können wertvolle neue Impulse entstehen, aus denen sich neue Beschäftigungen ableiten lassen. "Warum nicht noch mal eine Ausbildung machen und einen komplett neuen Berufszweig erobern? Ob Kellnerin oder Tagesmutterschein – erlaube es dir, zu deinen Gunsten über den Tellerrand zu schauen", schlägt Nina Grimm vor. Es sei unheimlich wichtig, gut in sich selbst zu investieren und wertschätzend mit sich selbst umzugehen. Die Expertin träumt von Frauenkreisen, in denen das leere Nest gefeiert wird und gemeinsam anerkannt wird, welchen Meilenstein und welche Lebensaufgabe diese Frau erreicht hat.
Empty Nest – und was ist mit der Paarbeziehung?
Während der Recherche für ihr neues Buch "Wie ihr euch nicht umbringt, wenn ihr Eltern seid" (siehe Buch-Tipp unten) führte Nina Grimm eine Umfrage unter Eltern durch und erhielt daraus erschreckende Erkenntnisse: 45,5 Prozent der Eltern sagten, sie haben ihre Paarbeziehung seit der Kinder dauerhaft aus den Augen verloren. "Das kommt von den vielen Alltagsaufgaben, der chronischen Überforderung, zu wenig Ressourcen. Am Ende fehlt einfach die Energie", fasst die Familientherapeutin zusammen.
Doch eine "Eiszeit" zwischen den Eltern mache den Umgang mit dem Empty-Nest-Syndrom noch schwerer. Daher sei es wichtig, schon vorbeugend, wenn die Kinder noch zu Hause sind, in die Paarbeziehung zu investieren. Das müssen keine großen Dinge sein, sondern vielmehr kleine, aber kontinuierliche Gesten im Alltag: "Sprecht euch ab: Blickt euch morgens einmal in die Augen, nehmt euch zum Abschied in den Arm, fragt euch auch mal gegenseitig, wie es euch wirklich gerade geht, setzt den Fokus auf einen liebevollen Umgang im Alltag", empfiehlt Nina Grimm.
Egal zu welchem Zeitpunkt, diese kleinen Dinge lassen sich jederzeit einführen. Die Expertin vergleicht das mit einem Girokonto: "Zahlt bewusst und regelmäßig darauf ein, um Rücklagen zu bilden. Dazu gehört auch die Disziplin, sich immer wieder zu sagen: 'Wir sind wichtig'!" Eure Paarbeziehung wird davon profitieren und das Empty-Nest-Syndrom weniger harsch ausfallen.
Weiter sei es nach dem Auszug der Kinder (oder schon vorher) gut, sich als Paar zu fragen, was man jetzt gemeinsam machen möchte. Vielleicht findet sich ein neues, gemeinsames Hobby oder Projekt. Doch auch wenn jeder einen eigenen neuen Lebensbereich erforscht, könne das der Paarbeziehung helfen, "vor allem, wenn man sich dort gegenseitig besucht, voneinander lernt, sich gegenseitig inspiriert", sagt Nina Grimm und nennt ein Beispiel: "Sie möchte Italienisch lernen, er hat Lust auf Rennrad fahren? Wie wäre es mit einem gemeinsamen Kurztrip: mit dem Fahrrad nach Rom! Er kommt auf seine sportlichen Kosten und sie kann im Restaurant ihre neuen Italienisch-Kenntnisse testen."
Das Loslassen lernen und Kinder sich loslösen lassen
Fällt Eltern das Loslassen der Kinder schwer, können sie sich bewusst vor Augen führen, dass das Loslösen enorm wichtig für deren Entwicklung ist. "Vorwürfe und Forderungen, wie oft die Kinder sich melden sollen, sind fehl am Platz", betont die Familienpsychologin. Sinnvoller seien offene Einladungen à la "Wenn du am Wochenende Lust hast, zum Mittagessen vorbeizukommen, freue ich mich." Oder: "Hast du Lust, dass wir zusammen einkaufen gehen?" Kontaktvorschläge sollen möglichst auf für das Kind gewinnbringende Art und Weise angebracht werden, um eine positive Beziehung und einen guten Kontakt aufrechtzuerhalten.
Nina Grimm ist Familienpsychologin, kognitive Verhaltenstherapeutin, Spiegel-Bestsellerautorin und zweifache Mutter. Mehr erfahrt ihr auf ihrer Website.
Foto: Nicole Tie Fotografie