
Eltern werden manchmal von diesen besonderen Momenten der Klarheit übermannt. Kleine Augenblicke, die so in keinem Erziehungsratgeber beschrieben werden. Und die einem schonungslos vor Augen führen, dass man etwas Grundlegendes ändern muss – jetzt sofort. Ich erinnere mich genau an einen solchen Moment zurück.
Alle glücklich außer Mama
Meine Tochter saß keksmampfend im Buggy. Mein Sohn stand auf dem Mitfahrbrett und futterte Apfelspalten. Ich hatte auch Hunger. Aber zum Essen war keine Hand mehr frei. Ich schob schließlich zwei Kinder vor mir her. Am Buggy baumelte das Laufrad meines Sohnes, das ich laut ihm "uuuuunbedingt" hatte mitnehmen sollen. Natürlich wollte er nach wenigen Minuten dann aber lieber doch geschoben werden. Da das Buggy-Netz bereits voll mit Einkäufen war, hatte ich Wickel- und Spielplatztasche schultern müssen. Wie ein santorinischer Packesel ächzte ich also den ansteigenden Weg zu uns nach Hause entlang – als mein Sohn sich umdrehte und mir ein freches "Schneller, Mama! Ich will nach Hause!" ins Gesicht blökte.
Das war er, der Moment, in dem ich mich fragte, was hier gerade falsch läuft. Und warum ich die einzige bin, die überhaupt läuft.
Am selben Abend noch montierte ich das Mitfahrbrett ab. Mein Sohn war gerade vier geworden – es war also keineswegs eine unmenschliche Forderung, wenn ich künftig von ihm verlangte, unsere gemeinsamen Fußwege auch wirklich zu Fuß zurückzulegen. Außerdem gab es ja immer noch das Laufrad. Seine kleine Schwester war zu dem Zeitpunkt 15 Monate alt. Nein, ich habe damals nicht von ihr verlangt, dass sie künftig auch zu Fuß läuft. Aber ich nahm mir schon zu diesem Zeitpunkt vor: So lange wie ihren großen Bruder werde ich sie nicht durch die Gegend schieben.
Bye, bye, Buggy!
Kaum war Mina alt genug, um sich für ein eigenes Fahrgerät zu interessieren, ließ ich den Buggy zuhause. Der Große war mittlerweile auf dem Roller unterwegs, die Kleine wollte auch einen und eierte darauf nebenher. Ein Mitfahrbrett gab es jetzt nicht mehr. Wenn Tom oder Mina also auf ihr Fahrgerät keine Lust mehr hatten, blieb nur noch eins: selbst laufen. Natürlich landete der Roller (oder beide) dann wieder auf meinen Schultern. Aber ganz ehrlich: Für eine glückliche Zweijährige, die den Weg vom Supermarkt allein nach Hause läuft und deshalb nicht nur stolz wie Oskar, sondern auch angenehm ausgepowert ist (und abends anstandslos einschläft!), schleppe ich die Teile sogar gern die 700 Meter nach Hause.
Autofahren ist die Ausnahme
Die Versuchung, längere Strecken mit dem Auto zu bewältigen, gibt es bei uns nicht. Unsere Tochter ist jetzt dreieinhalb, unser Sohn sechs Jahre alt. Ein Auto besitzen mein Mann und ich schon seit 7 Jahren nicht mehr. In Hamburg gibt es für ein autofreies Leben ausreichend Busse und Bahnen. Für alle Strecken unter zwei Kilometern haben wir auch darauf schon immer verzichtet. Und über diese Form des "Trainings" bin ich im Nachhinein heilfroh, denn seit der Ausbreitung des Coronavirus meiden wir die öffentlichen Verkehrsmittel, so gut wir können. Das heißt: Auch längere Strecken von drei oder mehr Kilometern erledigen die Kinder und ich zu Fuß oder mit dem Roller. Doch so selbstverständlich es für mich als Dorfkind vor 30 Jahren noch war, überall und jederzeit einfach hinzulaufen oder hinzuradeln, so sonderbar wirken wir im Hamburg auf viele Familien mit unserer Form der Fortbewegung.
Ab wann braucht man keinen Kinderwagen mehr?
"Und wie kommt ihr jetzt nach Hause?" – "Holt euch denn niemand mit dem Auto ab?" – "Den GANZEN Weg seid ihr so gekommen?" Kommentare wie diese höre ich oft. "Mama, was meint die Frau?", fragte mich mein Sohn einmal sehr irritiert, als eine besorgte Mutter immer wieder aufgeregt "Die armen Kinder! DIE ARMEN KINDER!" rief – sie hatte mitbekommen, dass wir durch den Nieselregen zu Fuß nach Hause gehen wollten. Ich konnte mir damals ein Lachen nicht verkneifen (übrigens auch jetzt nicht, wenn ich an diese Situation zurückdenke). Meine Kinder kennen es nicht anders: Da, wo sie hinwollen, tragen ihre eigenen Beine sie hin. Und ja: Alle Ziele, die im Alltag für sie wichtig sind, liegen in einem Radius, den auch eine Dreijährige problemlos ohne Bus oder Buggy erreichen kann. "Wenn das Kind allein in der Lage ist zu laufen, kann der Buggy wegbleiben", hat Dr. Gerrit Lautner, Ärztlicher Direktor der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen, mir in einem früheren Interview für Leben & erziehen einmal erzählt. Damals sagte er auch: "Wenn wir ehrlich sind, wird der Buggy doch häufig benutzt, um den Alltag für die Eltern einfacher zu machen."
Alles einfacher mit Buggy – oder doch ohne?
Natürlich hat er Recht. Und ich gebe zu: Der Anfang war hart. Eine Zweijährige weigert sich immer mal wieder, überhaupt nur einen einzigen Schritt zu gehen. Und ja, selbst ein Sechsjähriger hat noch so seine bockigen Momente. Doch genau wie beim Zähneputzen oder Zu-Bett-bringen ist auch beim Thema Mobilität Gewohnheit alles: Nach wenigen Wochen war unsere Form der Fortbewegung für die Kinder "normal". Und für mich eine der besten Entwicklungen überhaupt: Ich bekomme problemlos meine 10.000 Schritte am Tag zusammen. Und die Kinder empfinden das Zufußgehen als absolute Selbstverständlichkeit. Dafür gab es schon reichlich Lob von den Erziehern und Erzieherinnen der Kitas meiner Kinder – denn so "normal" ist es heutzutage eben tatsächlich nicht mehr, die eigenen Kinder einfach mal laufen zu lassen. Schade eigentlich.
Autorin: Silke Schröckert