Partnerschaft

Nils Pickert: "S*ex ist etwas, was er initiiert und sie ihm gibt?" Mitnichten

Glücklich und verliebt gemeinsam alt werden? Geht!, meint Vierfach-Papa und Autor Nils Pickert und verrät, welche Fehler die meisten Paare machen.

Nils Pickert© Benne Ochs
Nils Pickert ist vierfacher Vater, Autor und plädiert für Liebe auf Augenhöhe.

Haushalt, Job, Kinder und nebenbei ein Liebespaar bleiben – diese Herausforderung ist für viele Eltern eine scheinbar unlösbare Aufgabe. Nils Pickert ist selbst vierfacher Vater und überzeugt: Es kann klappen – aber nur mit wahrer Gleichberechtigung. Wie das funktioniert und von welchen alten Glaubenssätzen sich Paare dringend verabschieden müssen, verrät er uns im Interview.

Welche falschen Vorstellungen haben die meisten Paare von einer Beziehung?

Die, die wir alle haben. Es sind Glaubenssätze über romantische Liebe, denen wir nicht entgehen können. Wir lesen sie in Büchern, sehen sie in Filmen und hören sie in Musik. Seelenverwandtschaft, ewige, alle Widrigkeiten überwindende Liebe, sich immer wieder von selbst ergebener, spontaner Sex. Für Liebe gibt es keine sichere Endzone. Man muss nicht nur den einen, richtigen Menschen finden, sich das Richtige versprechen, richtig lieben und dann ist man für immer in Liebe sicher und errettet. So funktioniert das nicht. Liebe ist vergänglich, weil wir vergänglich sind. Sie kann die Kraft haben, sich zu erneuern, wenn wir die Kraft haben, uns zu erneuern. Wir formulieren Liebe mit einem nahezu überirdischen Anspruch, um uns für alle irdischen Mühen zu belohnen, und überfrachten sie mit Dingen, die sie nicht leisten kann. Dabei ist unsere irdische, alltägliche Liebe so viel besser als das. 

Alltägliche Liebe verdient es, von uns gegen das romantische Ideal von Liebe in Schutz genommen zu werden.

Sind Kinder ein Beziehungskiller?

Kinder sind für Liebesbeziehungen zweifellos herausfordernd. Sich um sie zu kümmern kostet Zeit, Kraft, Geld und jede nur erdenkliche Ressource, die sich auch gut in die Beziehung investieren ließe. Trotzdem definitiv nein: Kinder sind kein Beziehungskiller

Beziehungen scheitern vor allem, wenn man füreinander nicht mehr ausreichend Wohlwollen aufbringt, sich voreinander versteckt, nicht neugierig aufeinander ist und Veränderungen ablehnt oder erzwingen will. Im Fall eines Liebespaars, das Eltern geworden ist, bedeutet das vor allem die radikale Anerkennung der Tatsache, dass man jetzt ein Elternliebespaar ist. Davon gibt es kein Zurück. Das zu verleugnen wäre ungefähr so sinnlos wie sich einzureden, dass man in seinen Vierzigern wie ein Liebespaar in seinen Zwanzigern ist. Beide Versionen von Liebe sind vollkommen in Ordnung. Aber ein Paar in seinen Vierzigern gestaltet Liebe anders als ein Paar in seinen Zwanzigern. Und ein Elternliebespaar gestaltet Liebe anders als ein Liebespaar. 

Was können Eltern tun, wenn sie merken, dass ihre Beziehung in Schieflage gerät? 

Erst mal gemeinsam feststellen, dass das absolut nichts Ungewöhnliches ist. Gelingende Kommunikation, Vertrauen und Wohlwollen ergeben sich nicht von selbst. Sie müssen immer wieder versucht und gestaltet werden, um Begegnung und Bindung zu ermöglichen. Mit keinem Partner und keiner Partnerin bleibt einem das erspart. Es gibt sicher Konstellationen, denen das leichter fällt. Aber Liebe ist niemals genug, um eine tragfähige Beziehung zu etablieren oder gar aufrechtzuerhalten. Wenn eine Beziehung in Schieflage gerät, ist es wichtig, dass beide den Prozess der inneren Exilierung innerhalb der Beziehung stoppen, und alles auf den Tisch packen, was an Groll, Enttäuschung, Bedürftigkeit, aber eben auch an Liebe, Sehnsucht und Zukunftsvision vorhanden ist. Dann lässt sich sehen, ob man füreinander immer noch der Plan sein kann. 

Liebe auf Augenhöhe ist die Grundlage jeder Beziehung

Was bedeutet Gleichberechtigung in einer Beziehung und warum ist sie so wichtig?

Gleichberechtigung bedeutet, dass wir auf der Basis essenzieller Gemeinsamkeit in all unserer Verschiedenheit gleichwertig sind. Für eine Liebesbeziehung bedeutet das, dass die Ansprüche, Bedürfnisse und Hoffnungen des Partners oder der Partnerin gleichwertig mit meinen eigenen sind. Das mag trivial klingen, aber so leben wir unsere Beziehungen oftmals nicht. Wir neigen dazu, unser eigenes Leid, unsere Anstrengungen, Überzeugungen und Träumereien für zumindest ein klein wenig wichtiger, um nicht zu sagen realer, zu halten als die des oder der anderen. 

Wenn die Care-Arbeit meiner Partnerin für mich zu einer Bühne verkommt, auf der ich mein eigenes Leben freier gestalten kann, und es für mich keinen gedanklichen Weg zu der Vorstellung gibt, wie sehr mich diese Arbeit belasten würde und wie sehr sie diese Arbeit belasten muss, dann ist das ein Problem. 

Und wenn ich das sexuelle Begehren meines Partners für mich nur noch als Belastung empfinde, ohne ein Gespür dafür zu haben, dass sein Schmerz und seine Enttäuschung über meine Ablehnung es wert ist, gesehen, getröstet und nach Möglichkeit sogar geheilt zu werden, dann ist das ein Problem. Wenn Sie Liebe auf Augenhöhe wollen mit freiem, wohlwollenden Blick auf Ihr Gegenüber, ist Gleichberechtigung alternativlos. Sie ist die Versicherung dagegen, sich im Bedarfsfall auf Kosten des geliebten Menschen ausgiebig selbst der oder die Nächste zu sein. Und das Leben ist voll von solchen Bedarfsfällen.

Wie sind die ersten Schritte auf dem Weg zur Gleichberechtigung?

Zunächst ist radikale Akzeptanz dafür wichtig, dass Gleichberechtigung ein Disziplinierungsprozess ist. Auch hier wieder: Gleichberechtigung ist nichts, was man als Paar beschließt und dann hat man es geschafft. Gleichberechtigung bedeutet, immer wieder an den sich im Alltag schnell verlierenden Grundsatz der Gleichwertigkeit zurückzukehren und von dort aus mit aller Kraft Gleichberechtigung herzustellen. 

Darüber hinaus ist ein transparenter Beziehungsvertrag sinnvoll. Allen Beziehungen liegt ein Beziehungsvertrag zugrunde, ob man ihn ausgesprochen hat oder nicht. Darin finden sich die Dinge, die uns wichtig sind: Kinder, Sex, Finanzen, Haushalt und so weiter. Allerdings gestalten zu viele Paare diesen Vertrag nicht bewusst nach ihren Bedürfnissen aus. Stattdessen führen sie eine Beziehung auf der Basis unausgesprochener stereotyper Paarüberlieferungen. Haushalt? Sollte eher die Sache der Frau sein? Sex? Ist etwas, was er initiiert und sie ihm gibt. Kinder? Gehören in einer Langzeitbeziehung irgendwann dazu. All diese Dinge sind nicht notwendigerweise Bestandteil einer Liebesbeziehung. 

Wir sollten uns mehr darum bemühen, die Beziehungen zu führen, die wir wollen und brauchen, statt die, von denen wir glauben, sie führen zu müssen.

Männer sollten aufhören, im Haushalt nur zu helfen

Welche überholten Denkweisen oder Glaubenssätze sollten Männer ganz schnell ablegen?

Dass es genug wäre, im Haushalt und mit der Kindererziehung zu helfen. Wer glaubt, genug zu helfen, macht zu wenig. Immer. Es ist eine gemeinsame Beziehung, ein gemeinsames Leben. Männer sind keine Aushilfskräfte in ihrem eigenen Leben und sollten sich dementsprechend auch nicht so benehmen. In diesem Zusammenhang hätte ich noch eine Bitte an Männer: In meinem Bekanntenkreis trennen sich gerade haufenweise Paare wegen dem, was ich Belastungsinfarkt nenne: Frauen, die wegen Job und Care-Arbeit völlig am Ende ihrer Kräfte sind, flehen ihren Partner jahrelang um mehr Beteiligung an. Am Ende geben sie auf, trennen sich und er fällt aus allen Wolken. Bitte glaubt euren Partnerinnen. Wenn jemand sagt "Ich kann nicht mehr, ich geh hier unter, mir wird das alles zu viel" dann ist das auch so gemeint und ein schwerwiegendes Alarmzeichen.

Care-Arbeit und Finanzen in der Beziehung

Wie funktioniert fair aufgeteilte Care-Arbeit? 

Leider nicht über das Prinzip 50/50. Was auf dem Papier am einfachsten auszurechnen wäre, ist in der Realität am schwierigsten herzustellen. Wenn ich 9 Monate die 4 gemeinsamen Kinder meiner Lebenskomplizin und mir alleine betreue, weil sie irgendwo einen neuen Job mit Probezeit anfängt, heißt das nicht zwangsläufig, dass anschließend sie ihre 9 Monate abzuleisten hat. In unserem Fall wäre das aufgrund kapitalistischer Erwerbszwänge für sie als Festangestellte überhaupt nicht möglich. Trotzdem haben diese neun Monate einen Wert, der nicht einfach unter den Tisch fallen darf. Es hat mich viel gekostet, das neben meinem Job zu stemmen. 

Es braucht Dankbarkeit, Wertschätzung und ein gemeinsames Aushandeln über entsprechende Gegenleistungen. 

"Lass mich das Kochen, Vorlesen, die nächsten Urlaubsplanungen übernehmen!" So etwas in der Art. Um Fairness immer situativ herzustellen, ist das Leben viel zu komplex. Aber mittel- bis langfristig ist Fairness möglich. Dafür braucht es Gleichberechtigung. 

Inwiefern profitieren die Kinder von einer gleichberechtigten Partnerschaft ihrer Eltern?

Sie gehen selbstbewusster und kompetenter Bindungen ein. Sie kommunizieren transparenter, was sie von Beziehungen erwarten und bereit sind zu geben. Kinder von gleichberechtigten Eltern laufen weniger Gefahr, sich in angebliche Selbstverständlichkeiten zu verrennen, sind mehr bei sich und haben ein besseres Auge für ihr Gegenüber. Da Gleichberechtigung ein stetiger Aushandlungsprozess ist, lernen sie am Beispiel, gut und sinnvoll zu verhandeln. Und am Ende profitieren sie auch von etwas, das nur die Wenigsten als Gewinn betrachten würden: Scheitern. Eltern, die sich um Gleichberechtigung bemühen, werden immer auch scheitern. Sie werden gelegentlich unachtsam sein, faul, ungerecht, zornig, feige und selbstgefällig. Das ist nur menschlich, das gehört dazu. Liebe bewahrt uns nicht davor, so zu sein. 

Liebe sollte es uns aber den Versuch wert sein, es besser zu machen. Jeden Tag ein bisschen.

Nils Pickert: Zur Person

Nils Pickert ist ein deutscher Journalist und Autor. Er wurde 1980 in Berlin geboren und hat sich vor allem durch seine Arbeit im Bereich der Geschlechterrollen und Gleichberechtigung einen Namen gemacht. Pickert setzt sich aktiv für die Rechte von Frauen und LGBTQ+ Personen ein und thematisiert in seinen Artikeln und Büchern häufig Stereotype und Vorurteile. Besonders bekannt wurde er durch einen Artikel, in dem er über seinen Sohn berichtete, der gerne Kleider trägt. Dieser Text ging viral und führte zu einer breiten Diskussion über Geschlechterstereotypen in der Gesellschaft. Nils Pickert ist eine wichtige Stimme in der deutschen Medienlandschaft und setzt sich unermüdlich für eine gerechtere und vielfältigere Welt ein.