Kinder vertragen die Wahrheit

"Mama, warum sitzt die Frau im Rollstuhl?"

Unsere Autorin sitzt im Rollstuhl und wundert sich, warum es Erwachsenen so schwer fällt, Kindern eine Antwort zu geben, wenn sie nach Handicaps fragen. "Mehr Mut, liebe Eltern!", lautet ihr Plädoyer!

Kinder wollen wissen, warum jemand im Rollstuhl sitzt. Und verkraften die Wahrheit.© Foto: Getty Images
Kinder wollen wissen, warum jemand im Rollstuhl sitzt. Und verkraften die Wahrheit.

Alles, was Räder hat, ist pure Faszination für Kids! Aus Rollstuhlperspektive komme ich mit den Kleinen ganz automatisch in Kontakt. Endlich mal wer Tiefergelegtes auf Augenhöhe, endlich mal auch wer auf Rädern. Sie schauen im Gegensatz zu vielen Erwachsenen ungeniert mit großen Augen und können den Blick nicht abwenden. Ich bin für Kleinkinder im Supermarkt ein echter Highlander! Eine große Frau wie Mama in einem extrem coolen, großen Kinderwagen, das macht Eindruck!

Fast ein bisschen neidisch gucken sie, weil mein Wagen größer ist und auch noch von selbst fährt. Sie gucken sich alles genau an, sie zeigen mit dem Finger auf mich und sie fragen Mama fasziniert, was die Frau in dem Ding da macht. Der völlig geflashte Junge aus unserem Haus wünscht sich schon länger sehnlichst auch "so einen". Display, Bordcomputer und Joystick haben ihn überzeugt.

Eltern wollen Kinder vor der "Wahrheit" schützen

Fast noch interessanter sind dann oft die Reaktionen der Mütter. Zum Glück sind Sätze wie "Guck da nicht so hin" passé. Auffällig ist, dass viele Mamis ihre Kids vermeintlich vor der Wahrheit (die sie im Zweifel ja selber nur erahnen können) "schützen" wollen. Von "Die Dame ist etwas müde" über "Die Frau hat vielleicht keine Lust zu laufen" bis zu "Die Frau will ihre Schuhe schonen" habe ich schon alles gehört. Manche sind sogar der Meinung, ich schulde dem Kind eine Erklärung, aber bitte sehr behutsam. Seltsam.

Warum kann man Kindern nicht sagen, dass jemand nicht laufen kann? Passt das nicht in ihr Weltbild? Werden sie ein Trauma davontragen? Die wenigsten trauen sich, mich direkt anzusprechen. Dabei gewöhnen sich Kinder meiner Erfahrung nach doch extrem schnell an Neues. Hat man ihnen einmal glaubhaft erklärt, was sie wissen müssen, werden sie nicht mehr nachfragen.

Keine Angst vor Handicaps

Meine Nichten und Neffen, die mit der Tatsache aufgewachsen sind, gehen völlig natürlich damit um, dass sie sich bei mir um den Rolli streiten, in dem sie dann mit glühenden Wangen über den Flur flitzen. Dafür sind jedoch solche gut gemeinten Halbwahrheiten oder Übersprungsweisheiten verräterisch: Die Kleinen spüren das und bohren weiter.

Die Tochter meiner Nachbarin hat über Jahre ihre Mutter gefragt, warum ich so einen Stuhl benutzen würde und die Antworten waren offensichtlich unbefriedigend bis unglaubwürdig. Bis Mama sie wohl endlich für alt genug hielt, verkraften zu können, neben einer Frau zu wohnen, die nicht laufen kann. Inzwischen ist es das Normalste der Welt für sie, mich auf vier Rädern zu sehen. Alle reden von Inklusion, warum nicht auch danach leben?

Liebe Mamis, keine Angst vor Handicaps: Sagt euren Kids ruhig die Wahrheit, wenn sie danach fragen – sie sind stark, nicht blöd!

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