Irgendwann teilt jedes Kind – von sich aus

Hilfe, mein Kind will nicht teilen! Was Eltern (nicht) tun sollten

"Meeeeeins!" – Diesen Ausruf kennen wohl viele Eltern kleiner Kinder. Aber müssen Kinder eigentlich ihr Spielzeug oder andere ihnen wichtige Dinge teilen? Wir haben bei Experten nachgefragt.

Kleinkinder, die teilen.© Getty Images/Jill Lehmann Photography
Kleine Kinder lernen das Teilen von ganz allein – wenn sie uns als Vorbild haben.

Kinder teilen am liebsten, wenn sie sich freiwillig dazu entscheiden, sagen Entwicklungspsychologen. Gute Ratschläge sind erlaubt, ihr solltet euer Kind aber weder zum Teilen auffordern noch dafür belohnen. Die erfolgreichste Motivation zum Teilen bleibt die Dankbarkeit des Gegenübers – aber auch die Vorbildfunktion von uns Eltern ist wichtig. Wir haben darüber mit der Buchautorin und Coachin Kiran Deuretzbacher gesprochen.

Warum fällt es Kindern schwer zu teilen?

Kiran Deuretzbacher: Evolutionsbiologisch fällt es uns allen schwer. Ich sichere mir erst mal mein Überleben – so ist die Psyche von Kindern gestrickt. Dieser Perspektivwechsel ist ein Entwicklungsschritt, den sie erst lernen müssen. "Theory of Mind" heißt es, wenn man sich auch in jemand anders hineinversetzen kann. Das entwickelt sich frühestens mit drei, vier Jahren. Viele Grundschulkinder sind auch noch in diesem Prozess. Wir überfordern zweijährige Kinder sehr, wenn wir von ihnen erwarten, dass sie jetzt ihre Spielzeugschaufel auf dem Spielplatz brüderlich teilen. Sie lernen die Handlung vielleicht ein bisschen, aber verstehen nicht, was hinter diesem Teilen steckt.

Das können sie noch nicht verstehen. Manche machen das trotzdem, und das ist schön. Manche Kinder machen das aber nicht, und da ist nichts Dramatisches dran. Man hat das Kind nicht verzogen, das Kind ist nicht in der Entwicklung zurückgeblieben. Es ist kein asoziales Kind, sondern es ist ein Entwicklungsschritt, der einfach braucht. Den man unterstützen, indem man das Kind tatsächlich erst mal die Erfahrung machen lässt, eigene Sachen zu haben und darüber bestimmen zu dürfen.

Dann klappt das Teilen besser?

Ja, aus dieser Sicherheit heraus kann der nächste Entwicklungsschritt gelingen. Es ist hilfreich, wenn das Kind sieht, dass wir auch teilen und abgeben. Ich selber habe das in dem Alter mit meinen Kindern so gemacht, dass ich auf dem Spielplatz zum Beispiel auch eine Schaufel und einen Eimer hatte und mein Kind nicht teilen musste, aber ich geteilt habe. Dann hat es die Erfahrung gemacht, dass Teilen etwas Schönes sein kann. Es merkt, dass es nicht wehtut. 

Man zwingt das Kind nicht zum Teilen ...

Genau. Es kann aus einer Sicherheit heraus lernen. Das ist anders, als wenn wir ständig an ihm zerren, ungeduldig sind und erwarten, dass es das schon kann. Uns muss klar sein, dass wir an die Kinder krass hohe Anforderungen haben: Wenn wir uns an den Spielplatz setzen und jemand unser Handy einfach nimmt, würden wir auch stutzen. 

Kinder müssen also nicht teilen?

Es ist okay, dass es private Dinge gibt. Bei unserem Kind ist es nicht das Handy, sondern vielleicht die Lieblingsschaufel. Manchmal fehlt uns Erwachsenen der Perspektivwechsel, wie wichtig die Lieblingsschaufel sein kann.

Das Teilen ist aber auch altersabhängig ...

Es ist sehr unterschiedlich. Dieser Entwicklungsschritt gehört eigentlich in die Vorschule. Gleichzeitig braucht dieser Entwicklungsschritt sehr viel Kapazitäten. Wenn das Kind zum Beispiel gestresst ist, kann es diesen Perspektivwechsel vielleicht noch nicht. Wenn es aber gerade in einer entspannten Situation ist, also die Stabilität hat, ist es einfach. 

Das kennen wir auch selbst ...

Ja, wenn wir gestresst sind, fällt es uns viel schwerer, unseren Partner oder Partnerin zu verstehen. Ist man selber gerade entspannt sind und nicht unter Druck, gelingt uns der Perspektivwechsel viel leichter. Bei Kindern ist das noch viel extremer. Es kann sein, dass einem vierjährigen Kind in einer ruhigen Situation dieser Perspektivwechsel gelingt und es dann schon ein bisschen teilen kann, aber am nächsten Tag hatte es vielleicht gerade Stress im Kindergarten, ist total hungrig ist und hat eine volle Blase. Dafür ist der Entwicklungsschritt noch nicht stabil genug, dass es immer gelingt.

Kann man das auch auf das Teilen von Snacks übertragen?

Mit Snacks ist noch mal schwieriger. Denn wenn Kinder hungrig sind, nehmen die kognitiven Funktionen ab. Von einem hungrigen Kind zu erwarten, dass es sein Essen teilt, ist nicht angemessen. Das ist ja auch evolutionsbedingt nicht in uns angelegt.

Ein sattes Kind kann leichter teilen? 

Genau. Ich bin pro Konflikte, wie ich auch in meinem Buch (Anmerkung der Redaktion: Siehe Buchtipp weiter unten) schreibe, aber wir müssen nicht jeden Kampf angehen. Mit Kindergartenkindern können wir als Erwachsene auch Snacks dabei haben, die wir gerne teilen, aber unser Kind muss dann aus seiner eigenen Snackbox nicht teilen. Durch dieses Vorbild lernt das Kind viel mehr – und zwar aus einer Sicherheit heraus.

Wie können Eltern ihr Kind noch beim Teilen unterstützen?

Genau durch diese Vorbildfunktion. Und indem wir keine zu hohen Erwartungen haben, sondern darauf vertrauen, dass der Entwicklungsschritt kommen wird. Und einem dreijährigen Kind nicht ständig sagen, dass es jetzt lernen muss zu teilen. 

Und wenn das Kind älter ist?

Mir ist noch kein Grundschulkind über den Weg gelaufen, das nicht freiwillig gerne mit einem Freund teilt. 

Wie klappt das Teilen unter Geschwistern?

Da spielt auch die Autonomie eine Rolle. Und eine enstpannte Situation. Es hilft, wenn Freiwilligkeit und Selbstbestimmung dabei sind. Auch hier kann Eltern ein Perspektivwechsel helfen, unsere Kinder besser zu verstehen. Wir fänden es auch komisch, wenn jemand von außen kommt und sagt, du musst jetzt sein Auto teilen. Wir würden der Politik an den Hals springen, wenn es kein Privateigentum mehr gäbe. 

Geschwister brauchen auch ihren Rückzug und die Möglichkeit, Eigentum zu haben, über das sie bestimmen dürfen. Wenn sich sieben- und achtjährige Geschwister die Unterwäsche und Lieblingsspielzeuge teilen müssen, ist das schwierig. Das gehört zur Persönlichkeitsentwicklung dazu, dass sie Sachen haben dürfen, die ihnen gehören. 

Aber Geschwister müssen doch auch teilen lernen?

Genau, es darf gleichzeitig auch Konflikte geben, dass es zum Beispiel nur ein Trampolin gibt, über das man sich auseinandersetzt: Wie machen wir das? Wie lösen wir das? Was ist dein Bedürfnis? Was ist dein Wunsch? Dann hat man eine konkrete Konfliktsituation. Dazu lade ich gerne ein, wenn sich zum Beispiel Geschwister gegen Ende Kindergarten- oder in der Grundschulzeit um Krümel streiten, also wer ein paar Krümel mehr vom Kuchen abbekommen hat. 

Wie geht man damit um?

Eltern können sich klarmachen, dass das meist eine Eisbergspitze ist, und dass da oft etwas anderes dahintersteckt. Vielleicht sind bestimmte Bedürfnisse nicht erfüllt. Hat das Kind gerade zu viel Stress? Hat es gerade genügend Kontakt mit seinen Eltern? Fühlt es sich gesehen? Ich nenne das gerne Tiefseetauchen. 

In meinem Buch beschreibe ich es so, dass die Lösung das Sahnehäubchen ist. Es muss nicht immer sofort zur Lösung kommen, aber es ist wichtig, dass das Kind sich verstanden fühlt. Wir signalisieren: Ich verstehe, dass du diesen Kuchen nicht teilen möchtest. Das wäre toll, wenn du ihn alleine essen könntest. Das ist ein wichtiger Schritt. Wir müssen nicht immer sofort auf Handlungsebene gehen. Wir müssen unserem Kind nicht sagen, was es tun muss, dass es teilen muss.

Eine Illustration über Eltern-Kind-Konflikte© Aus dem Buch "Konflikte nutzen statt vermeiden"

Und wenn sich das Kind verstanden fühlt, kann es leichter teilen?

Das wäre erst der nächste Schritt. Dieses Verständnis entgegengebracht zu bekommen, ist sehr lehrreich. In Konflikten liegen große Geschenke, wenn wir unser Kind zum Beispiel fragen: Hast du eine Idee, wie wir das machen können? Wenn wir diese Ruhe in eine Situation bringen, haben die Kinder ganz oft tolle Ideen und bringen sich gerne ein.

Stress macht Teilen schwer?

Genau, unser Gehirn funktioniert so: Emotion vor Kognition. Wir dürfen also erstmal den Stress rausnehmen, damit sich die Emotionen regulieren können. Das erreichen wir durch Verständnis. Aber Verständnis ist nicht Einigkeit. Ich kann verstehen, dass mein Kind den Kuchen alleine haben möchte oder dieses Trampolin nicht abgeben möchte. Trotzdem bin ich damit nicht einverstanden. Diesen Spagat dürfen wir als Eltern aushalten. Wenn das Kind sich gesehen fühlt, einen Atemzug nehmen kann, damit der Stress aus dem Gehirn rausgeht, dann kann auch die Kognition wieder anspringen und sich eine Lösung leichter finden lassen.

Und wenn das Kind keine Freunde einladen will, weil es sein Spielzeug nicht teilen möchte?

Ich finde das auch total legitim, und das kann man wunderbar im Voraus besprechen. Denn in der Stresssituation ist es oft zu spät. Eine Vorbereitung hilft dem Kind. Man kann zum Beispiel am Tag vorher sagen: Hey du, morgen kommt Jannis. Ich weiß, letztes Mal war es schwierig, mit dem Lego zu spielen. Wie machen wir das heute? Ist es okay, wenn ihr mit dem großen Schiff gemeinsam spielt? Oder sollen wir das in den Schrank stellen? Überleg doch mal, was ihr zusammen spielen könnt. Dann bekommt dieses Kind Sicherheit. Was ihm wichtig ist, kommt in Sicherheit. So kann sich das Kind in Ruhe ohne zu viel Stress auf die Situation einstellen. 

Kann noch etwas anderes dahinterstecken?

Um das herauszufinden, ist es wichtig, mit dem Kind im Gespräch zu bleiben. Im Kindergartenalter kann man sich in einer solchen Phase auch erst mal einfach nur auf dem Spielplatz treffen. Vielleicht findet das Kind aber auch einfach die Spielzeuge der anderen spannend und möchte deshalb lieber dort spielen. Oft ist das Problem eher, dass wir zu früh zu viel von unseren Kindern erwarten. Ich glaube, da brauchen die Kinder ein Vorschussvertrauen von uns. Wir geben dem Teilen einen viel zu hohen Wert. Klar brauchen wir es in unserer Welt, und es ist wichtig, dass wir füreinander sorgen. Aber dieser Druck und diese frühe Anforderung an unsere Kinder helfen ihnen nicht in ihrem Entwicklungsprozess.

Unser Buch-Tipp zum Thema Teilen

Ihr wollt tiefer einsteigen? Mehr zu Kiran Deuretzbachers Buch findet ihr auch auf ihrem Instagram-Account:

Die Grenzen des Kindes akzeptieren und es nicht zum Teilen zwingen

Dass man Kinder nicht zum Teilen zwingen sollte, bestätigt auch Danila Schmidt, eine Mutter, die sich mit ihrem Herzensprojekt "Friedvolle Mutterschaft" selbstständig gemacht hat. Sie bietet anderen Müttern Begleitung, Kurse und Unterstützung rund um ihr Leben als Frau und Mutter an. Bei Instagram spricht sie auch über das Thema Teilen.

Zur Frage, ob Kinder überhaupt teilen können müssen, sagt sie, das sei in erster Linie unsere Erwartung (und die ist in der Gesellschaft weit verbreitet). Die Kinder wirken dann höflich, sozial etc. Und wir als Eltern wirken kompetent, wenn wir ein höfliches Kind haben. Doch was ist mit den Bedürfnissen des Kindes? Kinder verteidigen evolutionsbedingt erst mal ihr Hab und Gut. Um teilen zu können, müssen sie Empathie entwickeln. Dafür müssen wir als Eltern Vorbild sein und uns unseren Kindern gegenüber emphatisch verhalten. Dazu gehört auch, dass wir ihre Grenzen wahren und ihre Entscheidung akzeptieren, es also nicht zum Teilen zwingen. Danila rät dabei, dem anderem Kind eine Alternative anzubieten und seine Trauer zu begleiten. Man könne ggf. auch eigenes Spielzeug dabei haben, das man verleihen kann.

Außerdem rät Dani, bevor Besuch kommt, mit dem eigenen Kind zu besprechen, was es nicht teilen will und diese Sachen gemeinsam in einen Schrank zu stellen. Hilfreich sei es auch, die folgende Regel einzuführen: Niemandem etwas aus der Hand reißen, sondern warten, bis das andere Kind bereit ist, etwas abzugeben, zu tauschen oder zu teilen.

Hier seht ihr Danilas Insta-Video dazu: