
"Mama, ich muss aufs Klo, ich will Lego spielen, ich möchte die Frau was fragen ... – ABER NICHT ALLEINE!" Wie oft habe ich diesen Zusatz am Ende eines Satzes in den letzten Jahren eigentlich gehört? Und innerlich geflucht, weil ich einfach so gar keine Lust hatte, eins meiner Kinder mal wieder irgendwohin zu begleiten. Zugegeben, das klingt schrecklich rabenmutterhaft. Aber ich bin von der "Nicht alleine"-Phase wirklich schwer genervt. Vielleicht, weil bei drei Kindern immer irgendeines in irgendeiner Phase steckt. Und die sich dann oft auch genau konträr gegenüberstehen. Während also mein jüngstes Kind die Autonomie gerade erst entdeckt und unbedingt und auf jeden Fall ALLES allein machen möchte, egal wie lange es eben dauert, will eins der älteren Geschwister auf gar keinen Fall irgendwas allein machen. Obwohl es dazu rein motorisch und kognitiv durchaus in der Lage wäre.
Woher kommt nun aber diese Klettenphase?
Machen alle Kinder diese Phase durch? "Häufig fangen Kinder mit vier oder fünf an, sich bei Dingen, die sie eigentlich schon allein könnten, plötzlich wieder unterstützen zu lassen", sagt die Pädagogin Eliane Retz. "Das ist immer eine Temperamentsfrage, hängt aber auch häufig von der Geburtenfolge ab." Denn oftmals sind es die jüngeren Geschwister, die die "Nicht allein"-Phase intensiver durchmachen. Das liegt daran, dass dieses Um-Hilfe-Bitten eine Möglichkeit ist, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Im besten Fall bedeutet das dann: endlich mal Zeit allein mit einem Elternteil.
Die Klettphase ist ein häufiges Phänomen
Dazu kommt: Durch Corona ist bei vielen Kindern eine Unsicherheit entstanden, sodass viele von ihnen sich auch bei den einfachsten Tätigkeiten wieder eine helfende Hand suchen. Wie genau die aussieht, ist übrigens sehr unterschiedlich. Meine Kinder möchten gern, dass wir Eltern bei ihnen sind. Wir müssen nichts tun, einfach nur da sein. Andere Eltern berichten mir davon, dass ihr Kind plötzlich wieder Hilfe beim Anziehen fordert oder nicht mehr alleine den Kita-Rucksack packen will. Eliane Retz sagt über die Klettenphase: "Es ist ein häufiges Phänomen und kann zu vielen Konflikten im Alltag führen." Also auch wenn es sich so anfühlt, als wäre das nur bei euch der Fall: Ihr seid damit nicht allein.
Bin ich schuld, weil mein Kind nichts allein machen will?
Zunächst dachte ich tatsächlich auch, dass diese Phase etwas total Einzigartiges ist und nur meine Kinder phasenweise so viel Unterstützung brauchen. Und, wie viel zu oft im Leben als Mutter, zweifelte ich an mir: Hatte ich bei der Erziehung etwas falsch gemacht? War ich irgendwann zu viel oder zu wenig achtsam gewesen? Wir Eltern sorgen uns ja häufig, dass es unseren Kindern nicht gut geht, und denken, dass es an uns liegen könnte. Dabei sollten wir einfach von diesem Schuldgedanken wegkommen und uns sagen: Wir machen das genau richtig so. Und uns erlauben, von diesem "Nicht allein"-Gejammere genervt zu sein – und Grenzen zu setzen.
Aber wie sollen wir uns als Eltern verhalten?
"Wir können unsere Kinder nicht zwingen, aber ihnen die Folgen verdeutlichen", sagt Pädagogin Retz. "Wer keine Lust hat, den Schlafanzug auszuziehen, der geht eben damit in den Kindergarten.“ Ihr nehmt zur Sicherheit natürlich die Kleidung mit, es geht ja nicht darum, eure Kinder zu bestrafen, sondern ihnen zu zeigen, was passieren kann. Das ist ja auch ein spannendes Erlebnis. Und auf diese Weise ermöglicht ihr eurem Nachwuchs neue und eigene Lernerfahrungen.
7 Tipps für die Klettenphase
- Arbeitet als Eltern gut zusammen. Wenn der eine von der Situation extrem genervt ist, springt der andere ein. Das gilt auch für getrennte Paare.
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Besprecht, wie ihr als Eltern vorgehen wollt. An welchen Aufgaben soll euer Kind wachsen, wo unterstützt ihr es für absehbare Zeit gern?
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Tauscht euch mit anderen Eltern aus. Ihr werdet sehen: Alle sitzen im gleichen Boot. Dieses Wissen entlastet.
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Diskutiert nicht ständig mit euren Kindern. "Du bist doch schon groß" hilft in der aktuellen Situation nicht weiter. Besser ist es, einen Kompromiss zu finden. Wenn euer Kind beispielsweise den Müll nicht allein rausbringen will, geht mit, aber das Kind trägt den Beutel.
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Gebt euren Frust nicht weiter. Es bringt nichts, wenn ihr euch bei eurem Kind darüber beschwert, dass es nervig ist. Kinder brauchen die Bestätigung, dass ihr da seid, und nicht, dass ihr gefrustet von einer momentanen Verhaltensänderung seid.
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Beobachtet euer Kind. Wirkt es im gesamten Verhalten eher rückschrittig und kann plötzlich Dinge nicht mehr, geht zum Kinderarzt.
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Nicht vergessen: Der Wunsch nach Hilfe ist immer ein Zeichen für die Kooperationsbereitschaft eures Kindes. So will euer Nachwuchs Bindung zu euch aufbauen und sich eine Rückversicherung einholen.
Klammeräffchen sind tatsächlich ein Geschenk ...
Je länger ich darüber nachdenke, umso klarer wird mir: Die Klettenphase, sosehr sie auch nerven mag, ist tatsächlich ein Geschenk an uns Eltern. Denn sie ist eine ganz spezielle Art der Beziehungspflege. Ein Appell unserer Kinder, mehr Zeit mit ihnen zu verbringen. Denn müssen wir als Mama oder Papa zum Beispiel bei der abendlichen Bettroutine wieder mithelfen, beim Zähneputzen oder Schlafanzuganziehen, kommen wir eher ins Gespräch mit den Kleinen, können zwischendurch schon mal kuscheln und füllen den Beziehungstank wieder auf. Und das tut uns allen gut.
Ein Aufruf zu mehr Bindung
Was wir uns vor Augen halten sollten: Unsere Kinder machen all das nicht, um uns zu ärgern. Sondern im Gegenteil, weil sie auf diese Weise Nähe tanken wollen. "Wenn das Kind etwas nicht allein machen möchte, dann ist es nicht faul, sondern aktiviert sein Bindungssystem", erklärt Eliane Retz. So versuchen die Minis, Stress abzubauen und sich Rückversicherung abzuholen. Deswegen ist es auch wichtig, dass die Eltern mitgehen und nicht nur sagen "Jetzt mach das doch allein".
Was bei uns die Situation etwas entspannt hat, waren übrigens die Ge- schwisterkinder. Wenn wir Eltern wirklich so gar keine Lust mehr haben, dann sind da noch zwei kleine Menschen, die dafür sorgen, dass das Geschwisterkind eben nicht allein ist. So ist immer jemand da, der helfen kann. Wir Eltern merken, dass das Band zwischen den Geschwistern durch das gegenseitige Helfen stärker geworden ist. Gleichzeitig müssen wir manchmal aufpassen, dass nicht plötzlich alles abgenommen wird. Denn jedes Kind soll sich ja auch individuell entwickeln.