
"Bitte nicht schon wieder", denkt Mama, als Liam den Arm zum Mund führt und auf seinem Ärmel herumkaut. Der Stoff ist nass, von Spucke getränkt. Wie so oft, wenn der Fünfjährige aufgeregt ist. Heute ist Schnupper-Nachmittag in der Schule. Klar, dass Liam sofort den Ärmel ansabbert, als die neue Lehrerin ihn anspricht. Seine Mutter möchte gar nicht hinsehen. "Peinlich. Unser Sohn wirkt wie ein Kleinkind. Wie soll er demnächst bloß die Schule schaffen?" Am liebsten würde Mama den Ärmel aus Liams Mund herausziehen und den Kleinen zurechtweisen: "Hör doch endlich mal auf damit."
Erwachsene sind von den Marotten ihrer Kids oft genervt
Doch sie hält sich zurück. Denn sie hat sich von einem Kinderpsychologen beraten lassen und erfahren, dass Schimpfen, Bestrafen, Zurechtweisen oder Drohen langfristig nichts nützt. Am besten soll sie Liams Ärmel-Knabbern gar nicht beachten, was ihr allerdings sehr schwerfällt. Kein Wunder. Erwachsene sind meist irritiert, wenn ihre Kinder merkwürdige Marotten entwickeln. Wenn sie zum Beispiel an ihren Sachen herumzupfen, ständig an Haarsträhnen zwirbeln, Fingernägel kauen, blinzeln, komisch mit dem Kopf wackeln, sich ohne Not die Nase reiben, sich räuspern oder Worte unnötig wiederholen. Das sind in der Regel kleine Angewohnheiten, die manchmal zum Schmunzeln anregen oder bizarr wirken. Sie können nerven, sind aber harmlos. Die Betroffenen empfinden ihre Marotten nicht als belastend.
Die meisten Macken verschwinden von allein – und sie haben eine wichtige Funktion
Etwa jedes fünfte Kind im Vorschulalter ist zeitweise davon betroffen, in der Grundschule jedes zehnte. Die meisten dieser Marotten verschwinden von alleine wieder. Bei Kindern haben die lästigen Angewohnheiten eine wichtige Funktion. Sie wirken wie Rituale, die in bestimmten – häufig angsteinflößenden Situationen – Sicherheit bieten. Die Kleinen mögen Rituale, an denen sie sich orientieren können. Was vielleicht anmutet wie ein Zwang, kann im Kindergarten- und Schulalter ein Zeichen für eine ganz normale gesunde Entwicklung sein. Denn Kinder lieben alles, was sich zu bestimmten Zeiten berechenbar wiederholt. Die Spleens – selbst wenn sie aus der Sicht der Eltern reichlich abgedreht sind – helfen gegen Ängste.
Entwickelt das Kind eine Tic-Störung, sollte man einen Arzt aufsuchen
Anders ist das bei sogenannten Tics (vom französischen Tic = Gesichts- und Nervenzucken). Das sind unwillkürliche Bewegungen einzelner Muskeln (manchmal auch Schreie), die sich wiederholen, ohne dass ein Anlass erkennbar ist. Die Betroffenen können das nicht mit ihrem Willen beeinflussen. Tics lassen sich langfristig nicht unterdrücken. Die Ursache ist bisher nicht eindeutig geklärt. Wissenschaftler vermuten, dass bei den Betroffenen die Informationsweiterleitung im Gehirn gestört ist und Programme gehemmt werden, die motorische Abläufe steuern. Wenn solche Störungen auftreten, sollten Eltern mit ihrem Kind zum Arzt gehen. Im Rahmen einer Verhaltenstherapie können die Betroffenen lernen, mit Tics umzugehen. Manchmal werden auch Medikamente eingesetzt.
Kleine Marotten sind oft Ausdruck von Angst
Bei den ganz normalen kleinen Macken dürfen Erwachsene aber gelassen bleiben. Es kann auch mal ein Jahr dauern, bis sich eine Macke von allein erledigt. Wer nicht so lange warten möchte oder dem eigenen Kind helfen will, damit es nicht ausgelacht wird, kann versuchen, die Phase mit sanften Mitteln zu verkürzen. Dazu müssen Mütter und Väter ihre Sprösslinge genau beobachten. Häufig treten die Marotten in stressigen Phasen auf. Zum Beispiel beim Übergang von der Betreuung zu Hause in den Kindergarten. Oder vom Kindergarten in die Schule. Das Kind klammert sich an seine Gewohnheiten, um sich selbst zu stärken.
Die Eltern können dann zusammen mit dem Kind herausfinden, was sonst noch gegen die Angst hilft. Ist die Tochter oder der Sohn überfordert? Braucht das Kind Ermutigung? Lassen sich Erfolgserlebnisse schaffen, die es emotional stärken? Häufig kommen Kinder im Gespräch über Angst selbst auf gute Ideen, mit denen sie sich die Situation erleichtern können.
Zu viel Druck: Wenn aus Marotten Zwänge werden
Wenn das komische Verhalten allerdings weder mit Nachhilfe noch von allein vorübergeht und das Kind im Alltag dadurch sehr eingeschränkt wird, ist Hilfe notwendig. Harmlose Angewohnheiten aus der Kategorie "Ich fühle mich besser, wenn ich meine Sachen fünfmal sortiere" schränken die Lebensqualität nicht nennenswert ein. Erst wenn die Marotte unerträglichen Druck erzeugt, wird sie zur psychischen Störung, also zu einem Zwang. Und das ist gar nicht so selten. Mehr als 1,6 Millionen Deutsche leiden unter Zwängen. Die beginnen, wenn jemand zum Beispiel ständig zu spät kommt, weil er sein Zuhause nicht verlassen kann, ohne zwanzig Mal zu kontrollieren, ob der Herd ausgeschaltet ist und alle Türen mehrfach verschlossen wurden. Der Druck, alles dauerhaft kontrollieren zu müssen, lässt dann kaum noch Freiraum für andere Dinge. Häufig gehen Zwänge bei Erwachsenen mit Depressionen einher.
Liam hat nach den ersten aufregenden Schulwochen von alleine aufgehört, auf seinem Ärmel herumzubeißen. Die Eltern sind mittlerweile froh, dass sie es geschafft haben, geduldig zu bleiben. Auch ihre Sorgen in Sachen Schulleistungen erwiesen sich als unbegründet. Denn selbst Menschen mit echten Tic-Störungen sind nicht weniger schlau als andere. Im Gegenteil: Häufig verstehen sie Dinge besser und können sich langfristig mehr merken. Sie reagieren schneller, haben ein besseres mathematisches Verständnis und zeichnen sich durch besondere Schlagfertigkeit aus.
Autorin: Stephanie Albert