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Sie wollen Aufmerksamkeit. Und die kriegen sie. Die zwei Jungs sind Systemsprenger, wie Erzieher das nennen. Die Rabauken beginnen schon im morgendlichen Stuhlkreis zu schubsen, sie kippen Sand in das Mittagessen der anderen, sie beißen zum Abschied im Umkleideraum um sich. Die Kita-Mitarbeiter haben wahrlich alle Hände voll zu tun, um den von den zweien angezettelten Radau und Rangeleien in der Gruppe einzudämmen. Wenn dann die Leiterin der Einrichtung die Mamas der beiden Störenfriede beim Abholen darauf anspricht, hagelt es Vorwürfe. Die Situation eskaliert. Wer denn wohl die Erziehungsarbeit leisten müsse, lautet eine rhetorische Frage der Mütter. Eher eine Schuldzuweisung als Einsicht. Der Wille zur Kooperation: Fehlanzeige.
Ein konstruierter Fall. Aber ein realistischer, so bestätigen Kita-Leiterinnen hinter vorgehaltener Hand. Eine von ihnen, Susanne Schnieder, hat ein Buch über diese Art von Erfahrungen geschrieben. Es ist ein Pamphlet gegen die Zustände, ohne Schuldzuweisung an die Eltern – vielmehr eine Bestandsaufnahme einer Misere, die unter anderem der Pandemie zugerechnet wird. Doch für viele Erzieherinnen waren die Verhältnisse an ihrem Arbeitsplatz schon vor Corona unerträglich. Den ungenügenden Personalschlüssel und die zeitliche Belastung bestätigen Erzieher im Buch von Susanne Schnieder. Ein anderes Problem: das Verhältnis zwischen Elternhaus und Kita: "Die Beziehung ist angespannt, auch weil der Druck – der auf Eltern lastet – irgendwohin muss. Und da bietet sich die Kita als Ort für all den Frust und Unmut an. Auch als Ort, an den die Verantwortung in Erziehungsfragen delegiert wird. Vieles, was zu Hause gelebt und gelehrt werden müsste, wird auf die Einrichtungen abgewälzt", ist ihre Einschätzung.
Die Ansprüche an die Erzieher sind zu groß
So würden Benimmregeln, zum Beispiel bei Tisch oder zur Begrüßung, nicht mehr zu Hause vermittelt, sogar die Sauberkeitsphase werde in die Einrichtung verlagert. Es gebe nicht wenige Kinder, die nicht altersgemäß zur Toilette gehen können. Ein weiteres Beispiel ist das Zubinden der Schnürsenkel. "Oftmals ist es die Aufgabe der Erzieher, dies mit den Kindern zu üben", weiß die Autorin. Die Kita könne eben kein Familienersatz sein. Generell hat sich offensichtlich der Wert von Familie als Erziehungsort stark verändert. "Seit der Anspruch auf einen Kita-Platz 2013 gesetzlich verankert wurde, existiert auch ein Anspruchsdenken der Eltern, dass in den Einrichtungen erzogen werden soll", so Susanne Schnieder.
Sicher ist: die Interessen der Kinder fallen ziemlich oft hinten runter. Schon 2017 wurde mittels der "QuaKi"-Studie der Wunsch der Kinder nach mehr Freizeit und ungestörtem Spiel ermittelt, dem aber weder vom Elternhaus noch von den Einrichtungen entsprochen wird oder werden kann. Schnieder erklärt: "Kinder sind Seismografen gesellschaftlicher Entwicklung. Die Rappeligkeit generell in der Gesellschaft und den Familien, die tragen die Kinder auch mit in die Kita."
"Es muss sich endlich etwas ändern!", so Susanne Schnieder. Nur was? "Generell müsste das Rad ein wenig zurückgedreht werden. Kindern muss wieder Raum und Zeit für kindliches Spiel gegeben werden, auch in der Kita." Die Gewerkschaftsfachfrau Elke Alsago aus dem Bundesvorstand von Verdi bestätigt: "Kinder müssen sich heute wahnsinnig anpassen, um sich zurechtzufinden in dieser Gesellschaft, haben wenig Freiräume, schon rein räumlich werden Kinder richtiggehend eingeengt." Eigentlich könnten Erzieher "dem Drang der Kinder den richtigen Raum geben. Aber die Situation an den Kitas lässt das kaum mehr zu; wenn wie jetzt in Hessen 28 Kinder in einem Raum betreut werden, kann eine Erzieherin nicht gut pädagogisch arbeiten."
Folgendes muss sich laut den Expertinnen ändern:
- ein guter Personalschlüssel muss her (Fachkraft-Kind-Relation)
- Mehr Verfügungszeiten für die Erzieher (auch zur Vorbereitung und Planungsarbeit)
- Gute Fortbildungsmöglichkeiten und gute fachliche Begleitung von Auszubildenen
Verdi setzt zusätzlich auf bessere Trägerstrukturen ("mehr pädagogische Qualität auch in kleineren Einrichtungen").
Für die Praktikerin Susanne Schnieder sollten aber auch die Eltern umdenken: "Sie müssen und dürfen wieder mehr Verantwortung bei der Erziehung übernehmen. Und ihre Arbeit innerhalb der Familie muss mehr Wertschätzung seitens der Politik erfahren." Doch die Landespolitiker wurschteln an ihren Verordnungen herum. Nichts ist einheitlich geregelt, alles wird je nach politischer Kleinwetterlage festgelegt. Und im Bundesfamilienministerium in Berlin beschäftigen sich die Experten offensichtlich weniger mit Fragen zur Kita-Situation. Eine konkrete Anfrage nach einem Interview von "leben-und-erziehen.de" wurde über Wochen "übersehen". Für einen neuen Termin sei erst wieder in einigen Monaten Zeit.
Kindergarten-Chaos: Fakten zur Kita-Misere
Die Bertelsmann Stiftung attestiert, dass in Deutschland heute 1,7 Millionen Kinder in zu großen Kita-Gruppen betreut werden. Ihr Vorschlag: Eine Erzieherin sollte für höchstens drei Kinder unter drei Jahren verantwortlich sein, bei den Älteren empfehlen sie das Verhältnis 1 zu 7,5. Dazu wären ad hoc 120.000 zusätzliche Mitarbeiter nötig. Die Gewerkschaft Verdi beziffert den Bedarf bis 2025 auf rund 400.000 fehlende Fachkräfte: "200.000 in den Ruhestand ausscheidende Fachkräfte müssen bis dahin ersetzt werden; 270.000 Stellen, um eine bessere Relation Fachkraft/Kinder hinzubekommen, 160.000 Stellen zum Ausbau der Plätze und 100.000 Stellen für neue Hortstellen, da ab 2026 ein gesetzlicher Anspruch auf Hort- oder Vorschulplatz besteht", rechnet Elke Alsago, Referentin im Bundesvorstand der Gewerkschaft Verdi, vor. Dem würden nur 350.000 neue Auszubildende an Erziehungseinrichtungen gegenüberstehen. "Jede fünfte Berufsanfängerin scheidet nach fünf Jahren wieder aus", so Elke Alsago. Und das liege oft nicht nur an schlechter Bezahlung, sondern an den misslichen Verhältnissen. "Erzieher ist ein stressiger Beruf; viele Newcomer müssen sofort funktionieren, für sie hat kaum eine erfahrene Kollegin Zeit zur Einarbeitung."
Autor: Christian Personn