
Bunte Farben und eingängige Melodien – mögen Kinder doch. Und die Handlungen – absolut harmlos, teilweise sogar lehrreich gestaltet mit Zahlen, Buchstaben und anderem Vorschulwissen. Kindgerechtes Fernsehen, würde man also auf den ersten Blick vermuten. "Cocomelon" ist schließlich mit 189 Millionen Abonnenten der drittbeliebteste YouTube-Channel weltweit! Doch der Kanal ist umstritten. Experten kritisieren, dass die Videos zu schnell geschnitten seien und Kinder überstimulieren könnten. Ärzte warnen bereits öffentlich vor den Wirkungen der Sendungen auf das kindliche Gehirn.
Worum geht es bei Cocomelon eigentlich?
Im Mittelpunkt der Erzählungen, Lieder und Reime steht das Baby JJ zusammen mit seiner Familie und seinen Freunden. Alltagssituationen wie das Zähneputzen oder das Einkaufen im Supermarkt werden auf scheinbar harmlose Art und Weise gezeigt und besungen. Aber schon beim Durchscrollen durch die unterschiedlichen Clips auf der Plattform wird einem fast schwindelig vor lauter Farbkraft – als erwachsene Person! Wie muss es einem dreijährigen Kleinkind da ergehen!? Denn die Kernzielgruppe der populären Kindersendungen liegt zwischen zwei und fünf Jahren. Aber selbst jüngere Kinder schauen teilweise schon zu.
Über sieben Milliarden Aufrufe verzeichnet das Kinderlied "The Wheels on the Bus". Man erkennt das Lied sofort an der eingängigen Melodie. "Die Räder vom Bus" ist auch im Deutschen ein beliebter Kleinkindersong. Tatsächlich wird das Cocomelon-Programm in 25 Sprachen angeboten, auch auf Deutsch.
Was beim Gucken der Clips weiter auffällt: die schnellen, zackigen Schnitte. Eine Sequenz reiht sich im Sekundentakt an die nächste. Überreizung vorprogrammiert! Eine solch rasante Schnittabfolge wird sonst bei Kinofilmen in Actionszenen verwendet.
Nicht verwunderlich, dass Cocomelon bereits den perfiden Spitznamen "Cocainemelon" bekommen hat. Auf TikTok finden sich Videos, in denen Eltern ihre eigenen Kinderm beim Gucken der Sendungen filmen und von kleinen "Cocomelon-Zombies" sprechen. Warum? Kaum hören die Kleinen die Titelmelodie, schwenkt der Kopf Richtung Flachbildschirm – und verharrt dort fast schon hypnotisch für die komplette Sendezeit. Für so manches Elternteil könnte das ja fast schon praktisch sein, schließlich wollen wir doch, dass Kinder sich konzentrieren können. Und gegen ein paar Minuten Ruhe hat auch kein müder Papa und keine gestresste Mama etwas, oder?!
Was steckt dahinter?
Der kalifornische Arzt Joe Whittington erklärt das Cocomelon-Phänomen wie folgt: "Sobald Kinder die Titelmelodie hören und die grellen Farben sehen, springt ihr Belohnungssystem im Gehirn an und setzt Dopamin frei." Die Kleinen verbinden die Sendung also mit einem Glücksgefühl, das sie immer wieder erleben möchten. Der Mediziner spricht von einem "Babys' High". Aber: "Zu viel davon kann die kindlichen Gehirne überstimulieren und ihre Entwicklung stören", ergänzt der Experte. Sich auf die echten und greifbaren Erlebnisse zu fokussieren, kann Kindern nachhaltig schwerer fallen. Die Aufmerksamkeitsspanne kann sich auf Dauer verkürzen.
Dabei ist Cocomelon omnipräsent: Mittlerweile gibt es eine eigene Netflix-Serie. Die Sendungen sind via Amazon Prime Video streambar. Und in Deutschland wird die Fernsehserie außerdem auf Toggo ausgestrahlt.
Suchtfaktor – gewollt!
Die New York Times berichte bereits über die gezielte Optimierung, die der Konzern Moonbug, der hinter Cocomelon steckt, in die Sendungen steckt. Da wird gezielt an Kindern geforscht, die Cocomelon-Sendungen schauen. Sobald diese sich ablenken lassen, wird das notiert, um an genau diesen Stellen noch effektiver zu feilen und sie noch schneller zu cutten. Das Ziel: Kinder so lange und so viel wie möglich vor dem TV zu behalten.
Wer nun aber glaubt, alle anderen Kindersendungen sind safe, sollte mit diesem Wissen ruhig mal das aktuelle Programm der eigenen Kids mitgucken und gezielt auf die Frequenz der Schnitte achten. "Paw Patrol" oder "Grizzy und die Lemminge" sind nur zwei Beispiele für Sendungen, die unter jungen Kindern aktuell sehr beliebt sind, aber echtes Reizpotenzial bergen. Eltern berichten nicht selten darüber, dass nach solchen Shows die Laune der Kinder im Keller ist und das Müdigkeitslevel dafür ganz weit oben.
Besser als TV: Bücher, Spiele und frische Luft
Gut zu wissen: Laut aktuellen Untersuchungen sollten Kinder unter drei Jahren im besten Fall noch gar keiner Bildschirmzeit ausgesetzt sein. Kinder zwischen drei und sechs Jahren sollten nicht mehr als 30 Minuten täglich gucken. Im Idealfall wählen Eltern ein reizarmes TV-Programm aus.
Joe Whittington rät Eltern nicht grundsätzlich vom Fernsehen ab, aber die Dosis macht, wie so oft, das Gift. Und noch viel wichtiger: Der Tagesablauf von Kindern sollte hauptsächlich durch sinnvolle Aktivitäten wie Lesen, (freies) Spielen und Aktivitäten im Freien gestaltet werden. Keine Überraschung, aber durchaus eine Erinnerung wert.