Erst Flop, dann top!

Marodes Bildungssystem: Die Rütli-Schule als Vorbild?

Aufgrund regelmäßiger gewalttätiger Ausschreitungen galt die Rütli-Schule lange als Objekt des Grauens. Quasi über Nacht verwandelte sie sich zur Vorzeigeschule im Berliner Stadtteil Neukölln. Wie ist das möglich? Und was kann unser Bildungssystem insgesamt davon lernen?

Fröhliche Schulkinder© iStock/Drazen Zigic
Die Rütli-Schule: Vom Alptraum zum Vorzeigeobjekt (Symbolbild)

Die Bildungskrise ist offensichtlich, Gewalt an der Rütli-Schule gängiger Alltag. Erst ein Brandbrief der Lehrkräfte an die Politik und viel engagiertes Personal mit frischen Ideen bringt eine plötzliche Wende – zumindest an dieser Schule. 

Von der "Horror"-Rütli-Schule zum Vorzeige-Campus Rütli

Zunächst einmal der zeitliche Ablauf im Überblick: 

2006, Berlin-Neukölln: Messer, eingetretene Türen und Feuerwerkskörper gehören an der Rütli-Hauptschule zum Alltag. Mit einem Brandbrief wollen die Lehrkräfte die Politik wachrütteln. Die Bildungskrise in Deutschland ist nicht zu übersehen. Viel zu lange wurde weggeschaut.

2009: Cordula Heckmann übernimmt die Schulleitung der Schule, die sich künftig Campus Rütli nennt und keine Hauptschule mehr, sondern eine Gemeinschaftsschule ist. Das neue Konzept folgt dem Motto "Stärken stärken" und bezieht die Kinder und Jugendlichen aktiv mit ein. Wer mitgestalten darf, hat auch ein größeres Interesse daran, dass es gut ist und kann sich besser mit der Institution identifizieren. 

2023: Die Schule hat sich zum Vorzeigeobjekt gemausert. Mit Stadtteilwerkstatt und zwei Kitas ist der Campus Rütli zum sozialräumlichen Bildungsprojekt geworden. Cordula Heckmann hat ein Buch über die Entwicklung der Schule geschrieben (siehe Buch-Tipp unten) und geht dieses Jahr in den wohlverdienten Ruhestand.

Buch-Tipp

Buch Gebt die Kinder nie auf!© Verlag

Als Schulleiterin hat Cordula Heckmann die Rütli-Schule komplett neu aufgezogen und zu einer der attraktivsten Schulen Deutschlands gemacht. Was die deutsche Bildung braucht, schreibt sie in ihrem Buch "Gebt die Kinder nie auf! Was wir am Beispiel der Rütli-Schule über Bildung lernen können", Gräfe und Unzer Edition, 19,99 Euro. Am Ende des Buches gibt es eine lange, hilfreiche Literaturliste für alle, die noch mehr wissen möchten.

Kindern und Jugendlichen Gehör schenken

In einem Interview mit einem Journalisten des Redaktionsnetzwerks Deutschland sagt Cordula Heckmann:

Unsere Erfahrungen zeigen: Je mehr Stimmen die Jugendlichen haben, je wirksamer sie sich fühlen, desto besser können sie sich auf die Gesellschaft einlassen – und haben nicht das Bedürfnis, sich auf den Straßen derart auszulassen.

Den Jugendlichen ist wichtig, gesehen und mit einbezogen zu werden. Sie wollen nicht über einen Kamm geschert und als Gruppe verallgemeinert, sondern respektvoll behandelt werden. Ja, es gibt eine gewisse Gewaltbereitschaft, aber eben nur bei einem Teil der Menschen. Es gibt auch wissenshungrige, engagierte und motivierte Schüler und Schülerinnen. Allgemein passiert es bei arabisch- und türkischstämmigen Kindern leider nicht so häufig wie etwa bei englischer oder französischer Herkunft, dass die Kinder für ihre Muttersprache wertgeschätzt werden. Das ist am Campus Rütli anders. Cordula Heckmann und ihr Team glauben an die Möglichkeiten der Kinder und Jugendlichen: 

Wir unterbrechen den Kreislauf der Zuschreibung als minderwertige Sprache und der daraus folgenden kulturellen Stigmatisierungen. Wir erkennen Türkisch und Arabisch als wertvolle Sprachen und die kulturelle Herkunft unserer Schüler:innen und ihrer Familien als bereichernd an.

Das schreibt Cordula Heckmann in ihrem Buch "Gebt die Kinder nie auf!" (siehe Buch-Tipp) und verdeutlicht damit einen wichtigen Aspekt ihres Erfolgs. 

Keine Hauptschule mehr

Auch die vorherige Aufteilung in Schulen mit erfolgsversprechenden Abschlüssen (Realschulen, Gymnasien) und Auffangbecken oder Restschule (Hauptschule) hat ausgedient. Wer an der Hauptschule war, hat sich oft so gefühlt, als hätten die Lehrer ihn bereits aufgegeben. Diese Spaltung gibt es nun nicht mehr, die Schüler und Schülerinnen schöpfen Hoffnung und spüren, dass sie respektiert und ernst genommen werden und im Leben etwas bewirken können. 

Forderungen an die Bildungspolitik

In ihrem Buch fasst Cordula Heckmann 20 Forderungen für gelingende Schulen zusammen, von denen wir euch hier ein paar im Überblick auflisten möchten. 

  • Keine "Failing Schools". Schulen in Schieflage müssen durch gute Beobachtung frühzeitig erkannt werden. Dann ist tatkräftige Hilfe von außen nötig, um den Kurs zu ändern.
  • In einer Gemeinschaftsschule fürs Leben lernen: die Jugendlichen auf das Leben in einer pluralen Gesellschaft vorbereiten durch einen lebendigen Sozialraum und gute Vernetzung. Sich durch gegenseitigen, respektvollen Austausch für Diversität stärken und diese leben.
  • Staatlich geschaffene Voraussetzungen für gelungene Inklusion, die den Bedürfnissen aller gerecht wird.
  • Die Stärken, nicht die Defizite der Kinder aktiv in den Vordergrund stellen.
  • Die Schule sollte ein attraktiver Lebensort für Kinder und Jugendliche sein.
  • Späterer Start in den Tag, flexible Schule mit beweglichen Strukturen. Der frühe Schulbeginn entspricht nicht den Bedürfnissen der Schüler und Schülerinnen.
  • Vorbilder annehmen. Schulen dürfen und sollten von Systemen aus anderen Ländern lernen.
  • Neue Erkenntnisse aus der Bildungsforschung müssen schnellstmöglich in den Schulalltag einfließen.
  • Den Lehrermangel aktiv angehen und attraktive Konzepte schaffen. Das Ansehen von Lehrenden in der Gesellschaft stärken.
  • Kein Hick-Hack-Plan aufgrund von wahlpolitischen Interessen, sondern nachvollziehbare, menschliche Entscheidungen, bei denen die Lernenden im Vordergrund stehen.
  • Umfassendes Bildungsangebot ermöglichen durch gutes Ineinandergreifen verschiedener Institutionen.

Wenn Cordula Heckmanns Vision aufgeht, könnte das Schulsystem in Deutschland sich wohl zu einem entwickeln, das die Kinder und Jugendlichen tatsächlich gut aufs Leben vorbereitet, und für ein gutes Miteinander in einer funktionierenden Gesellschaft sorgt.

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