
Das Gefühl, das dieser eine Gedanke bei mir auslöste, werde ich nie vergessen. Es war bedrohlich, es war falsch. Und es legte sich widerlich düster über die Vorfreude, die ich empfand, als ich zum zweiten Mal in meinem Leben einen positiven Schwangerschaftstest in den Händen hielt. Dieser eine Gedanke, der von da an immer mal wieder einschüchternd in mir emporkroch: "Werde ich dieses Kind genauso sehr lieben können wie mein erstes?"
Ich habe zwei Kinder. Mein Sohn, der ältere, war nicht nur das erste Kind für meinen Mann und mich, sondern auch das erste Enkelkind für alle beteiligten Großeltern. Jeder einzelne kleine Meilenstein der Schwangerschaft wurde zelebriert. Ich konnte es kaum abwarten, in meinem Schwangerschaftsratgeber die nächste Woche aufzuschlagen. Und zu lesen, wie weit sich das kleine Wunder in meinem Bauch nun entwickelt hatte. Ist es schon so groß wie eine Avocado? Kann es schon greifen? Oder mich hören? Ganz egal: Vorgelesen habe ich eh jeden Abend (ja, ich habe meinem Bauch ein Buch vorgelesen). Und natürlich wusste ich nicht nur pünktlich zur Vorstellungsrunde im Vorbereitungskurs, in welcher Schwangerschaftswoche ich mich befand (26+4!), sondern konnte diese Info zu jeder beliebigen Tages- und Nachtzeit abrufen. Man hätte mich aus dem Tiefschlaf reißen können und ich hätte vermutlich gebrüllt "13+4!", "17+2!" oder "24+1"!
Alles verliert mit der Wiederholung die Faszination des Neuen, Unbekannten
Als Kind Nummer Zwei unterwegs war, war das anders. Den Schwangerschaftsmonat hatte ich noch parat, klar. Bei der Woche wurde es schon enger. Und diese alberne Zahl hinter dem Pluszeichen? Die ergibt doch ohnehin keinen Sinn: Welches Kind kommt schon auf den Tag genau zum errechneten Geburtstermin? Dass ich es mit diesen Angaben nicht mehr so genau nahm, hat mich persönlich kaum gewundert. Ist doch klar: Alles verliert mit der Wiederholung die Faszination des Neuen, Unbekannten. Selbst solch ein Wunder wie eine Schwangerschaft. Und ich gebe zu: Es gab sogar Momente, in denen ich mich vor meinem eigenen Bauch erschrak. Weil ich tatsächlich komplett vergessen hatte, was gerade Großartiges in ihm geschah.
Schockierend, ich weiß. Und dennoch nur logisch. Es ist doch so: Während der ersten Schwangerschaft steht das erste Kind im Fokus. Und während der zweiten Schwangerschaft? Auch. Ein Zweijähriger benötigt nun einmal mehr Aufmerksamkeit als ein 13 Wochen alter Embryo. Und die Wochenenden sind bereits mit Spielplatzbesuchen oder Kindergeburtstagen gefüllt. Da bleibt keine Zeit mehr für Schwangerschaftsmassagen, Vorbereitungskurse oder Entspannungsbäder. Das Baby im Bauch bekommt kein (oder kaum) eigenes Schwangerschaftsprogramm – es macht ja schon das Programm des Erstgeborenen mit. Praktischerweise beklagt es sich darüber noch nicht einmal. Und ich warne lieber gleich: Sich dieser Aufteilung bewusst zu werden, ist nahrhaftes Futter für den grausamen Gedanken, den ich zu Beginn dieses Textes niedergeschrieben habe.
Die Erlösung: Liebe, die sich verdoppelt
Doch dann ist er irgendwann da: Der Tag, der alle falschen Gedanken, alle gruseligen Szenarien im Nu auslöscht. (Naja, nicht ganz im Nu – in meinem Fall nach zwölf Stunden Wehen.) Von dem Moment an, als ich meine Tochter das erste Mal in den Armen hielt, kamen mir alle Zweifel so lächerlich, so albern, so unnatürlich abwegig vor. Natürlich liebe ich dieses großartige Wesen genauso sehr, genauso innig und genauso bedingungslos wie mein erstes Kind. Und das Wunderbarste dabei: Meinen Sohn liebe ich dadurch nicht einen Deut weniger. Als Mutter wird man nicht gezwungen, die Liebe unter den Kindern aufzuteilen. Ganz einfach in Worte gefasst: Ich glaube, mit jedem Kind bekommt man eine ganz neue Portion unendliche, bedingungslose Portion Mutterliebe mit auf den Lebensweg.
Ich wäre beim ersten Kind gern so entspannt gewesen wie beim zweiten!
Unser Großer ist heute fünf, die Kleine zwei Jahre alt. Und noch heute fällt mir auf, dass sie meistens nur "mitläuft“. Der Große hat Schwimmunterricht oder Logopädie-Stunden? Die Kleine und ich warten draußen. Babyschwimmen, Musikschule, Lesekreise – all diese Dinge, die ich mit dem ersten Kind täglich unternommen habe, blieben Kind Nummer Zwei verwehrt. Dafür profitiert sie von meiner Erfahrung als Mutter: Situationen, die mich beim ersten Kind noch laut aufkreischen ließen, löse ich heute gelassener. Mit der nötigen Ruhe, die auch den Kindern zugutekommt. Meistens jedenfalls. Ich renne nicht mehr bei jeder Kleinigkeit zum Kinderarzt. Werde nicht panisch, wenn ein Kind mal einen Tag nichts isst (oder zu viel). Und lasse mich von den Kommentaren anderer Eltern nicht mehr so leicht aus der Fassung bringen. Kurz gesagt: Ich wäre beim ersten Kind gern so entspannt gewesen wie beim zweiten!
Natürlich wächst unsere Kleine dadurch irgendwie anders auf als der Große. Sie stand auch nie allein im Mittelpunkt eines ganzen Familienkonstrukts, so wie er es tat. Ob sie in ihren ersten Lebensmonaten gemerkt hat, dass sich nicht alles um sie gedreht hat? Ob sie als Embryo gespürt hat, dass ich meinen eigenen Schwangerschaftsbauch sogar vergessen habe? Ob sie jemals den fürchterlichen Gedanken spüren konnte, der mich während der Schwangerschaft immer wieder gequält hat? Ich weiß es nicht. Aber eins weiß ich ganz genau: Ich liebe meine beiden Kinder gleichermaßen auf eine bedingungslose Art und Weise, die nicht in Worte zu fassen ist. Sollte wirklich etwas dran sein an der Legende, dass jedes Elternteil ein Lieblingskind hat: Auf mich trifft sie nicht zu. Und DAS spüren sie beide.
Autorin: Silke Schröckert