
Professor Manfred Cierpka, Ärztlicher Direktor der Eltern-Säuglings-Sprechstunde am Uniklinikum Heidelberg, erklärt, was Eltern tun können, wenn ihr Baby dauerhaft schreit.
Wann ist ein Baby ein Schreibaby?
Gemeinhin wenn es mehr als drei Stunden am Tag drei Wochen lang über drei Monate schreit. Vielmehr ist jedoch das Empfinden der Eltern maßgebend: Manche Mütter und Väter sind verzweifelt, wenn ihr Kind drei Stunden am Tag schreit, andere, wenn es bloß eine Stunde weint.
Viele Eltern fragen sich, ob sie etwas falsch machen ...
Fakt ist: Eltern verstehen ihr Kind nicht auf Anhieb, sie müssen es erst "lesen lernen". Das Schreien ist ein Signal, das von Mama und Papa verstanden werden muss. Vielleicht hat das Baby Hunger, vielleicht braucht es eine frische Windel ... Wenn Eltern das Signal richtig dekodiert und entsprechend auf sein Bedürfnis reagiert haben, erzeugt das beim Kind eine positive Rückmeldung – es fühlt sich gut aufgehoben; die Eltern fühlen sich dadurch wiederum bestärkt, was sie im Umgang mit ihrem Kind sicherer macht. Nun gibt es Säuglinge, die in den ersten drei Lebensmonaten durch den geringsten Reiz hocherregt sind und dauerhaft Schreien, sodass es für Eltern schwer ist, zu erkennen, was ihr Baby braucht. Das verunsichert natürlich, was sich aufs Kind überträgt und das Schreien noch verstärkt.
Demnach sind äußere Reize die Auslöser für das Schreien?
Zunächst einmal ist Schreien in diesem Alter ganz normal. Beim übermäßigen Schreien gehen wir davon aus, dass Schreibabys Schwierigkeiten haben, physiologisch angemessen innere und äußere Reize zu verarbeiten. Sie leiden dann unter einer sogenannten Regulationsstörung. Diese kann allein oder in Kombination mit anderen Regulationsstörungen auftreten. Je mehr auftreten, desto schwerer die Symptome.
Treten neben dem exzessiven Schreien noch andere Symptome auf?
Diese Babys leiden oft auch unter Schlafstörungen. Sie schlafen zu wenig und sind deshalb überreizt, was wiederum das exzessive Schreien triggert. Ein Teufelskreis!
Was wissen Sie über die Ursachen?
Nicht viel – trotz zahlreicher Studien. Was wir wissen: Das exzessive Schreien hat auf jeden Fall mehrere Ursachen. Bei Säuglingen im Alter bis 14 Wochen liegt es offensichtlich daran, dass bestimmte Hirnareale, die den Schlaf-Wach-Rhythmus regulieren, noch nicht ausgereift sind. Das betrifft etwa 15 bis 25 Prozent der Kinder. Nach etwa vier Monaten sind diese Areale nachgereift und meistens kommt es dann zu spontanen Verbesserungen des Symptome.
Was können Väter und Mütter tun, wenn ihr Nachwuchs rund um die Uhr schreit?
Schnellstmöglich zum Kinderarzt gehen! Viele Pädiater kennen sich im Bereich Regulationsstörungen inzwischen sehr gut aus und können Eltern gut beraten. Sie überweisen die Familie gegebenenfalls an eine Eltern-Säuglings-Sprechstunde oder Schreibabyambulanz.
Und wie läuft Ihre Sprechstunde ab?
Wir führen ein Gespräch mit den Eltern, das wir per Video aufzeichnen. Anschließend besprechen wir uns ohne die Eltern und schauen das Video gegebenenfalls noch einmal an. Wir betrachten dabei dreierlei: Das Verhalten des Kindes, das der Eltern und wie sie miteinander umgehen. Auf dieser Basis erarbeiten wir dann einen konkreten Handlungsleitfaden, wie die Eltern besser auf die Signale ihres Kindes reagieren können, den wir anschließend mit ihnen besprechen. Gelegentlich führen wir auch eine gezielte Videoanalyse durch, bei der wir die Eltern bitten, mit ihrem Säugling zu spielen oder ihn zu füttern und werten im Anschluss Szene für Szene aus.
Wie erfolgreich ist diese Behandlung?
In der Regel bleibt es bleibt es bei einem Termin. Nur wenige Familien müssen ein zweites oder weitere Male kommen.
Manche Eltern setzen auch auf Osteopathie ...
Osteopathie kann das Kind beruhigen, was natürlich auch den Eltern hilft. Wir setzen allerdings bei den Eltern an und versuchen, ihnen gezielte Tipps zu geben, damit sie in der Lage sind, ihr Baby selbst zu beruhigen.
Welche Folgen kann das Schreien haben?
Glücklicherweise klingt es nach dem dritten Lebensmonat meist von selbst ab. Aber bis dahin kann es die Eltern-Kind-Beziehung empfindlich stören. Väter und Mütter von Schreibabys sind dann überfordert, hilflos, aggressiv und werden mitunter auch gewalttätig: In dieser Überforderungssituation drücken sie ihrem Kind ein Kissen aufs Gesicht, lassen es fallen oder schütteln es. Wir gehen davon aus, dass rund sechs Prozent aller Schreibabys misshandelt werden. Deshalb muss den Eltern sofort geholfen werden.
Haben Sie noch einen Tipp für Betroffene?
Das Wichtigste ist, dass Väter und Mütter in ihre elterlichen Kompetenzen vertrauen und keine Angst haben, Dinge auszuprobieren. Meist klappt das sehr gut. Und wenn nicht, gibt es Einrichtungen wie uns, wo sie sich Hilfe holen können.
Gut zu wissen
Die gesetzlichen und auch die meisten privaten Krankenkassen übernehmen die Kosten für die Beratung in einer Eltern-Säuglings-Sprechstunde bzw. Schreiambulanz.