
Hand aufs Herz: Gehört ihr auch zu den Eltern, die ein Lieblingskind haben? Das ist absolut nicht ungewöhnlich, wie die Familienpsychologin und Autorin Nina Grimm bestätigt. Wir haben mit ihr gesprochen.
Warum viele Eltern ein Lieblingskind haben
Nina Grimm sagt, dass ein solches Gefühl selten etwas mit bewusster Bevorzugung oder mehr oder weniger Liebe für ein Kind zu tun habe. Stattdessen falle es vielen Elternteilen häufig einfach mit einem Kind leichter als mit dem anderen.
Die Gründe dafür sind so individuell wie unsere Nasenspitzen und sind jeweils begründet in den jeweiligen Persönlichkeiten und den inneren psychischen Fahrplänen der Eltern und Kinder – die entweder besonders matchen oder hart aufeinanderprasseln können.
Eine große Rolle spielt dabei häufig, wie ähnlich das Kind einem selbst ist. Zwei Beispiele:
- Eine unsichere Mutter tut sich mit dem wilden Kind im Alltag eher schwer, fühlt eine tiefere Verbindung zu dem zarten, schüchternen Kind.
- Ein unsicherer Vater hingegen bewundert die Willenskraft und Stärke des einen Kindes und ist eher genervt von dem zögerlichen Verhalten des anderen.
Nina Grimm erklärt das folgendermaßen: "Der innerpsychische Fahrplan des unsicheren Vaters sagt: 'Du bist ein Schwächling. So darfst du nicht sein. Reiß dich zusammen!' – und der steht im Konflikt mit dem zögerlichen Kind, wird aber voll bedient vom toughen – weswegen er hier mehr Verbundenheit spürt." Was am Ende wirklich entscheidend dafür ist, welche Auswirkungen es hat, wenn man ein Kind bevorzugt, sei das Bewusstsein der Eltern über ihre eigenen Themen.
Auswirkungen für Kinder, wenn Eltern ein Lieblingskind haben
Inwieweit es auf die Kinder einen Einfluss hat, wenn die Eltern ein Lieblingskind haben, hängt laut Nina Grimm von mehreren Faktoren ab: Wie sehr die Eltern sich ihrer Präferenz bewusst sind, das mit ihren eigenen Themen in Verbindung bringen können und ob sie sich darum selbstverantwortlich kümmern – damit der alltägliche Einfluss möglichst gering bleibt.
Der unsichere Vater könne sich beispielsweise darum kümmern, seinen Selbstwert zu stabilisieren und erkennen, dass er auch unabhängig von Leistung liebenswert ist. Dann kann er auch das zögerliche Kind leichter annehmen und das toughe vielleicht sogar dazu ermutigen, auch mal schwach sein zu dürfen, meint Nina Grimm. Wenn das passiert, liegt darin für die ganze Familie ein tolles Potenzial.
Werden die Eltern aber unbewusst von ihren psychischen Fahrplänen dominiert und wird die Präferenz unreflektiert ausgelebt – egal, ob offen oder verdeckt –, prägt das Kinder bis ins hohe Erwachsenenalter in potenziell allen Lebensbereichen. Von leicht neurotisch bis psychisch krank – in so einer Dynamik ist auf jeden Fall Raum für ordentlichen und zähen Zunder.
Auch hier gilt: Die Auswirkungen sind so individuell wie wir Menschen. Die Familienpsychologin zeigt zwei exemplarische Fälle auf:
- Das bevorzugte Kind verinnerlicht: 'Ich muss performen, damit ich geliebt werde. Also hebe ich meine Leistungen besonders hervor und setze die von meinen Geschwistern herab.' Das kann im Erwachsenenalter dazu führen, dass es schwerfällt, eigene Fehler einzugestehen und Beziehungspartner:innen in Konflikten entwertet werden, um den eigenen Selbstwert zu schützen.
- Das "ungeliebte" oder weniger geliebte Kind verinnerlicht: 'Egal, wie sehr ich mich anstrenge – es ist nie genug. Also stelle ich hohe Erwartungen an mich und meine Leistung, in der Hoffnung, dann doch noch zu bekommen, wonach ich mich sehne.' Es bleibt aber immer mit dem dumpfen Gefühl zurück, es ohnehin nicht schaffen zu können. Das kann im Erwachsenenalter dazu führen, dass bis zum Erschöpfen gearbeitet wird und alle Fehler immer zuerst bei sich gesucht werden.
Das sind nur zwei potenzielle Varianten von unendlich vielen – wichtig ist aber festzuhalten: Es prägt, wenn man ein Lieblingskind hat.
Wie Eltern damit umgehen können, wenn sie ein Lieblingskind haben
Wie Eltern es trotzdem schaffen, genauso liebevoll zu den anderen Kindern zu sein – dazu rät Nina Grimm, die Herausforderung mit unserem Kind zu "reframen", also mit einem anderen Rahmen zu versehen – und es willkommen zu heißen.
Dem oben erwähnten unsicheren Vater wird durch das zögerliche Kind eine Seite an sich aufgezeigt, mit der er selbst augenscheinlich noch nicht einverstanden ist. "Dass er dieses Thema durch sein Kind aufgezeigt bekommt ist ein Geschenk", betont Nina Grimm. "In einem psychotherapeutischen Prozess ist das harte Arbeit!
Durch sein Kind bekommt er sein Thema auf dem Silbertablett serviert.
Es ist eine wunderbare Chance, sich als Elternteil zu entwickeln, alten Mustern zu entwachsen. Um zu denen zu heranzuwachsen, die wir für unsere Kinder sein wollen. Die Kinder, die ihre Eltern am meisten fordern, sind ihre allerbesten und wichtigsten Lehrer:innen!"
Nun stellt sich die Frage, ob Eltern versuchen sollten, es sich vor den Kindern nicht anmerken zu lassen, oder lieber "authentisch" zu sein und dazu zu stehen. Die Familienpsychologin weiß, so oder so steht die Präferenz im Raum und sehr wahrscheinlich spüren das die Kinder. Aus diesem Grund sei es tatsächlich besser, damit transparent umzugehen. Dabei gilt allerdings, sehr feinfühlig damit umzugehen.
Nina Grimm schlägt etwa diese wertschätzende und kindgerechte Herangehensweise im Gespräch mit dem Kind vor: "Es stimmt. Mit deinem Geschwister fällt mir vieles leichter. Aber das heißt nicht, dass ich dich deswegen weniger liebe. Im Gegenteil: Ich schätze dich besonders dafür, dass du mir aufzeigst, wo ich noch stärker/milder/zarter/weicher/nachsichtiger … werden darf. Und dafür danke ich dir von Herzen, mein Engel."