Chaos statt Hochglanz

Endlich echt! Influencer zeigen ihr Chaos und werden dafür gefeiert

Perfekte Wohnungen, makellose Familien, strahlende Kinder – wer kennt sie nicht, die Hochglanz-Welt von Social Media? Doch immer mehr Eltern haben genug von dem ständigen Vergleich und dem Druck, mithalten zu müssen. Ein neuer Trend erobert die sozialen Netzwerke: #normalhome.

Kleines Mädchen sitzt in unaufgeräumter Küche.© iStock/Lisa5201
Das wahre Leben zeigen – darum geht es bei dem neuesten Social-Media-Trend.

Wir alle kennen diese Bilder vom Scrollen durch den Instagram-Feed: Im minimalistisch eingerichteten Wohnzimmer liegt die Mohair-Decke kunstvoll drapiert auf dem Sofa, in der Designer-Vase steckt ein einzelnes Blatt einer Monstera. Im blitzblanken Badezimmer werden die Armaturen offenbar stündlich poliert. Kein Krümel auf der Küchenarbeitsplatte – geschweige denn eine ungespülte Kaffeetasse. Und selbst das sparsam verteilte Spielzeug fügt sich auf magische Weise perfekt ins Interior-Konzept. Die Hochglanz-Welt bei Social Media kann Eltern, wenn sie vom Smartphone aufschauen und die Instagram-Eindrücke mit dem Chaos in den eigenen Wänden abgleichen, ganz schön fertigmachen.

Mehr Realität statt schönem Schein

Doch es scheint so, als hätten die User das ewige Sich-schlecht-fühlen nun satt. Denn es zeichnet sich eine Trendwende ab. "Normal Home", also "normales Zuhause", lautet der Begriff, der gerade bei TikTok trendet. Heißt: Immer mehr Influencer zeigen ihre Wohnungen so, wie sie eben sind – mit Wäschebergen, ungemachten Betten und aus allen Nähten platzenden Kleiderschränken. Damit treffen sie einen Nerv. Durch das ungefiltert zur Schau gestellte Chaos erlangen plötzlich auch Accounts erstaunliche Reichweiten, die ein Zuhause zeigen, das so gar nicht den bisherigen Kriterien der Instagram-Scheinwelt entspricht. Die, die den Geschirrberg in der Küche zeigen, statt ihn zu verstecken. Die, deren Wohnzimmer nicht im Skandi-Style eingerichtet ist, sondern in Spanplatten-Ästhetik von Poco Domäne. Die, die fünf verschiedene Fleecedecken auf dem Sofa liegen haben. Oder anders ausgedrückt: Die, die das echte Leben zeigen. Beiträge, die keine Minderwertigkeitskomplexe erzeugen. Sie kreieren eine Atmosphäre des wohlig Unperfekten und schaffen einen Gegenentwurf zu den Influencern, deren Posts vermeintlich ihren normalen Alltag zeigen, aber letztlich vor allem eines sind: cleveres Marketing, um Kaufanreize zu schaffen für all die exklusiven Interior-Pieces auf ihren Bildern. 

Es scheint, dass sich aus dem ewigen Hinterherrennen unerreichbarer Ideale eine neue Energie entwickelt hat, die bei Social Media langsam, aber sicher sichtbar wird. 

Unter den Hashtags #normalhouse oder #normalhomes feiern Mütter ihre ganz durchschnittlichen, alltäglichen Wohnungen und bekommen dafür Bestätigung in Form von Likes, Followern und wohlwollenden Kommentaren. 

Reichweite durch Chaos

Die US-TikTok-Userin Stephanie Murphy zählte zu den ersten, die mit ihrem sogenannten Durchschnitthaushalt viral ging. Sie zeigt das Leben mit Kindern so, wie es bei Millionen anderen Familien auch aussieht. Ihr Motto: "Normalisieren wir 'durchschnittlich', denn daran ist nichts auszusetzen." Sie kritisiert, dass bei Social Media Aufnahmen von "großen, wunderschönen Häusern in perfektem Zustand" dominieren und dass es schwer sei, das eigene Zuhause nicht damit zu vergleichen. "Aber das ist nicht die Norm und es ist inszeniert", erklärt sie. "Unser Haus ist bewohnt und voller Liebe und unzähliger Erinnerungen und am Ende des Tages ist das alles, was zählt."

Der neue Trend hin zu ungeschönten Alltagseinblicken wie bei Stephanie Murphy führt dazu, dass sich die User wieder mehr auf die eigentlichen Inhalten konzentrieren können. Dass sie beim Scrollen durch die Apps entspannen und abschalten können, anstatt dazu angestachelt zu werden, dem nächsten Interior-Trend nachzujagen. Die Kommentare unter ihren TikToks zeigen, dass ihre Community durch die ehrlichen Posts plötzlich wieder mehr Wertschätzung fürs eigene Zuhause zu entwickelt. Vielleicht gehört zur Wahrheit auch dazu, dass einige heimlich ganz stolz darauf sein dürften, dass es bei ihnen selbst aufgeräumter ist als auf dem reichweitenstarken Social-Media-Profil. Und letztlich lautet die erfrischende Botschaft hinter dem "Normal Home"-Trend: Es ist kein Problem, nicht aufgeräumt zu haben – andere haben es auch nicht.