Marinas Geschichte

Single-Mama by Choice: "Reproduktion und Romantik sollten getrennt laufen"

Immer mehr Frauen erfüllen sich ihren Kinderwunsch auch ohne Mann. Marina Belobrovaja ist eine von ihnen. Welche Herausforderungen sie als "Single Mother by Choice" bewältigen musste und wie sie ihren ganz persönlichen Weg zum Familienglück gefunden hat ...

Marina mit Tochter Nelly.© Still aus 'Menschenskind!' (2021 CH)

Ein Hotel irgendwo außerhalb von Zürich. Marina ist nervös, als sie das Zimmer betritt. Den Mann, den sie hier gleich treffen wird, kennt sie kaum, weiß nicht einmal seinen wahren Namen. Und doch wird sie mit diesem Fremden die vielleicht bedeutsamste Verbindung eingehen, die zwei Menschen einen kann: Sie wird mit ihm ein Kind zeugen.

Nur vier Tage nach ihrer Begegnung im Hotel weiß Marina, dass es geklappt ist. "Ich spüre hormonelle Veränderungen in meinem Körper sehr schnell", sagt sie. Und sie sollte Recht behalten. Ihre Tochter Nelly ist inzwischen zehn Jahre alt, und wenn Marina an jene alles verändernde Nacht im besagten Hotelzimmer zurückdenkt, fällt ihr vor allem ein Adjektiv ein, um die Begegnung zu beschreiben: "Es war extrem technisch."

Ein Kinderwunsch ist nicht immer an romantische Liebe geknüpft

Marina ist Solo-Mutter. Das heißt, sie hat sich bewusst dazu entschieden, mittels Samenspende eine Familie zu gründen. Den Entschluss traf sie, als sie 36 Jahre alt war. "Ich war völlig überarbeitet und habe gemerkt, dass ich so nicht weiterleben möchte. Alles, was ich in meinem Leben hatte, war Arbeit", sagt die Künstlerin und Filmemacherin rückblickend. 

Marina erzählt mir ihre Geschichte am Telefon. Sie spricht reflektiert und strukturiert. Geboren wurde sie in der Sowjetunion, migrierte nach Israel, zog schließlich fürs Kunststudium nach Deutschland und dann in die Schweiz, wo sie heute an einer Hochschule als Dozentin arbeitet. Marinas Lebensgeschichte hat sie gelehrt, das Leben aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Sie weiß, dass es mehr gibt, als den geraden Weg.

Schon lange verspürte sie einen Kinderwunsch, doch einen Partner gab es zu diesem Zeitpunkt nicht. "Ich hatte immer genug Ausreden, um keine Kinder zu bekommen. Dann habe ich mich damit auseinandergesetzt, welche Wege es gibt." Schnell kam sie auf das Mittel der privaten Samenspende. Zunächst zog sie auch Co-Elternschaft mit einem homosexuellen Mann in Erwägung, entschied sich dann jedoch dagegen. "Ich lasse ein neues Leben entstehen, und auf diesem Weg begleitet mich ein Fremder. Das konnte ich mir nicht vorstellen", sagt sie. Auf einer speziellen Plattform nahm sie schließlich Kontakt zu einem Mann auf, der bereit war, keinen Anspruch auf Umgang mit dem Kind zu erheben. 

Keine juristische Absicherung

Den Mann, den sie heute Co-Erzeuger nennt, traf sie nach einigen Chat-Nachrichten in einem Café. „Es war irritierend und einschüchternd“, erinnert sie sich an ihre erste Begegnung. Er hingegen sei sehr routiniert und sachlich vorgegangen. Zu diesem Zeitpunkt ging Marina davon aus, dass er bereits 20 leibliche Kinder hatte. Wieviele es in Wirklichkeit sein sollten, erfuhr sie erst Jahre später. 

Private Samenspende ist in der Schweiz nicht legal. "Wir hatten keine Möglichkeit, uns juristisch abzusichern. Es gab nur eine mündliche Absprache und das Vertrauen darauf, dass er zur Verfügung steht, wenn meine Tochter ihn kennenlernen will." Im Gegenzug versprach sie ihm, den Behörden seinen Namen nicht preiszugeben. Auf der Geburtsurkunde ihrer Tochter ist kein Vater eingetragen. Woher sie den Mut nahm, einem im Grunde Fremden ein solch großes Vertrauen entgegenzubringen, erklärt sie beinahe philosophisch: "Ich vertraue Menschen und ich vertraue meiner Intuition. Ich lebe, und damit risikiere ich."

Trotz der ungewöhnlichen Umstände bestand Marina darauf, ihr Kind auf natürlichem Wege zu zeugen. 

Mir war es wichtig, eine gewisse körperliche Anziehung zu verspüren. Es ging mir nicht um die Romantik, dazu war es viel zu abgeklärt. Aber ich wollte die körperliche Nähe zu ihm bejahen können. Ich will diesen Menschen mögen können.

Schon während der Schwangerschaft bekam Marina zu spüren, wie drastisch sich ihr Leben durch die Entscheidung, die sie getroffen hatte, verändern würde. Freundschaften zerbrachen, weil viele ihren Weg nicht verstehen konnten. "Ich war sehr offen damit, wie das Kind entstanden ist und habe es transparent kommuniziert. Ich bin sehr oft auf Unverständnis gestoßen", sagt sie. "Es haben sich Kluften in persönlichen Beziehungen aufgetan, die dazu geführt haben, dass ich mich von Menschen entfernt habe."

Marina mit Tochter Nelly auf dem Fahrrad.© Still aus 'Menschenskind!' (2021 CH)
Ein Vater fehlt Marina und Tochter Nelly im Alltag nicht.

Ihre Eltern standen jedoch immer hinter ihr. "Meine Familie lebt in Israel, und dort ist die Wahrnehmung von Elternschaft eine andere. Dort ist es selbstverständlich, Kinder zu bekommen. Die Technik und die Familienform dahinter ist egal und wird ethisch nicht hinterfragt. Das ist das andere Extrem", sagt sie. "Selbst das konservativste Tantchen hat positiv reagiert."

Die erste Zeit war hart

Auch nach der Geburt war es vor allem ihre Familie, die sie unterstützte. "Meine Mutter war für ein paar Wochen da. Sie hat mir wahnsinnig geholfen", sagt Marina. Als Nelly einen Monat alt war, flog sie mit ihr nach Israel und blieb zwei Monate bei ihrer Familie. "Mein Vater hat mich zurück nach Zürich begleitet, und ich habe so geheult, als er sich dann wieder verabschiedet hat." Marina bekam zu spüren, was es bedeutet, Solo-Mama zu sein, ganz allein für ein Baby verantwortlich zu sein. "Es war unglaublich hart. Aber es hat sich eingependelt, weil es keine andere Möglichkeit gab." Eines betont sie jedoch: "Es gab nie ein Bereuen."

Nach fünf Monaten ging Nelly tageweise in die Krippe, weil Marina wieder arbeiten musste. "Ich hatte damals einen guten Job an einer Hochschule und war finanziell privilegiert genug, mir einen Babysitter leisten zu können." Sie weiß heute: Solo-Mutter zu werden, ist auch eine Frage der finanziellen Absicherung. "Alle Solo-Eltern, die ich kenne, sind Menschen mit guten Jobs, die sich das schlicht leisten können."

Im Nachhinein erfuhr sie die ganze Wahrheit

Zum biologischen Vater ihrer Tochter steht sie bis heute in sporadischem Kontakt. "Einmal im Jahr schreibe ich ihm eine Mail mit Fotos. Es ist recht unemotional."

Für die Arbeit an ihrem Dokumentarfilm "Menschenskind!", in dem sie sich mit der Zeugungsgeschichte ihrer Tochter auseinandersetzt, führte sie zwei lange, anonymisierte Interviews mit ihm. Dabei kam heraus, was er ihr zunächst verschwiegen hatte: dass er bereits 60 Kinder gezeugt hat. Für Marina zunächst ein Schock. "Ich denke nicht, dass ich mich auf ihn eingelassen hätte, wenn ich gewusst hätte, wie viele Kinder er schon hat", sagt sie. "Es war nicht einfach, aber heute ist es Teil unserer Geschichte."

Ihre Tochter geht mit der Situation gelassen um. "Als alle Kinder in der Klasse einmal ihre Familie vorstellen sollten, sagte sie ganz cool: 'Hallo, ich bin Nelly und ich habe 59 Geschwister'", erzählt Marina lachend. "Alle Kinder haben ganz interessiert nachgefragt."

Völlige Offenheit als Voraussetzung

Für sie stand von Anfang an fest, dass sie mit ihrer Tochter offen über ihre Herkunft sprechen will. "Es war für mich die Grundvoraussetzung für diesen Reproduktionsweg." Als Nelly mit drei Jahren plötzlich eine Faszination für Babybäuche entwickelte, erklärte sie ihr, wie sie entstanden ist. "Ich wollte die Aufklärung nicht forcieren, aber ich habe gemerkt, dass es eigentlich ganz einfach ist, Kindern so etwas zu erklären", sagt sie. Warum dieses Thema so tabuisiert sei, kann sie nicht nachvollziehen. "Es ist für Kinder so leicht zu verstehen." Immer wieder stelle ihr Nelly seither Fragen zu ihrer Entstehung, doch ihren biologischen Vater habe sie bisher noch nicht kennenlernen wollen. "Ich habe ihr vorgeschlagen, diesen Mann zu treffen. In der zweiten Klasse hat sie gesagt: 'Mama, es ist noch zu früh. In der dritten Klasse vielleicht.' Jetzt ist sie in der vierten, aber sie will es noch immer nicht."

Inzwischen hat Marina das Glück, in einem Umfeld zu leben, in dem ihr Familienmodell und ihr Lebensentwurf vollauf akzeptiert wird. "Wir haben den Vater nie als fehlend empfunden. Er war einfach nicht da", sagt Marina. "Wir wohnen in einem Kiez, in dem es Co-Elternschaften gibt und zig verschiedene Familienkonstellationen und Herkünfte. Eine Umgebung, die divers genug ist, um unsere Geschichte als eine von vielen zu begreifen." Seit vier Jahren führt Marina mittlerweile eine Beziehung zu einem Mann, mit dem sie jedoch nicht zusammenwohnt. "Wir treffen uns außerhalb des Alltags, und das empfinde ich als wahnsinnig wohltuend. Ich für mich denke, dass Reproduktion und Romantik getrennt laufen sollten. Es ist ein Privileg, eine Liebesbeziehung zu haben, die nicht durch Alltagsroutine belastet ist."

Immer mehr Solo-Mütter in Deutschland

Wie viele Solo-Mütter wie Marina es im deutschsprachigen Raum gibt, ist statistisch noch nicht erhoben. Fakt ist: Es werden immer mehr. Durch eine geänderte Gesetzeslage sind Kinderwunschkliniken in Deutschland inzwischen öfter bereit, auch alleinstehende Frauen zu behandeln. Marinas Beispiel beweist: Es kann sich lohnen, die Kleinfamilienkapsel aufzubrechen und sich den Traum von der eigenen Familie zu erfüllen – auch ohne Partner. Ihre Geschichte zeigt auch: Kinder brauchen nicht Mama und Papa, um glücklich zu sein. Sie brauchen lediglich eine Handvoll Menschen, die sie lieben und fürsorglich ins Leben begleiten.

Solo-Mütter – die rechtliche Lage in Deutschland

Laut einer 2018 veröffentlichten Richtlinie der Bundesärztekammer gibt es kein Verbot, Frauen ohne männlichen Partner künstlich zu befruchten. Allerdings wird Reproduktionsmedizinern gleichzeitig empfohlen, Single-Frauen bzw. gleichgeschlechtliche Paare nicht zu behandeln. Auch wenn es hierzulande inzwischen viele Kinderwunschkliniken gibt, die die Behandlung durchführen, gehen viele Frauen hierfür ins Ausland, zum Beispiel nach Dänemark oder in die Niederlande.

Das Samenspenderregister besagt, dass Spenderkinder auf Wunsch Auskunft über ihren biologischen Vater erhalten dürfen. Eine offizielle Höchstgrenze, die besagt, wie viele Kinder ein Mann per Samenspende zeugen darf, gibt es nicht.