Süße Versuchung

Kinderernährung: Kein Zucker ist doch auch keine Lösung

Ding-ding-ding, der Eiswagen kommt. Für viele Eltern bedeutet das Geräusch dieses Glöckchens puren Stress. Warum unsere Autorin bei dem Satz "Will auch ein Eis!" nur noch müde lächelt ...

Nackte Kinderfüße, ein Eis liegt auf dem Boden© iStock/ChristinLola
Ohne Eis? Ohne mich! Kinder lieben Süßes – und der Zuckerkonsum ist in vielen Familien ein heikles Thema.

Sommerfest in der Nachbarschaft: Der drei Meter lange Tapeziertisch ist völlig überfrachtet mit Tupperdosen, Kuchenblechen und Servierschüsselchen. Mit zielsicherem Blick erspäht der Zweijährige den Schokoladenkuchen, grapscht nach dem größten Stück, um im nächsten Moment sein ganzes Gesicht darin zu versenken. Und ich? Zücke schon mal die Feuchttücher und bin gleichzeitig – ja – irgendwie erleichtert. Weil ich mir die Diskussion erspare. Weil ich gar nicht erst versuche, ihn von der Zuckerbombe fernzuhalten, indem ich ihm Apfelspalten unter die Nase halte. Weil ich ihn einfach machen lasse.

Ist ja nicht der Rede wert, könnte jemand einwenden, der mit dem Thema Lockerlassen so gar keine Probleme hat. Allerdings weiß ich von den meisten Müttern, dass Süßigkeiten bei ihnen nicht den Blutzuckerspiegel, sondern eher den Stresspegel in die Höhe schnellen lassen – zumindest wenn ihre Kinder sie in den Händen halten.

Zucker lauert überall

Im ersten Babyjahr gilt Zucker laut WHO als tabu, und wie so viele Eltern habe auch ich mich daran gehalten. Irgendwann ist das Null-Zucker-Gebot allerdings einfach nicht mehr alltagstauglich. Weil zum Alltag eben auch mal ein Eis oder Stück Kuchen gehört. Und weil Kinder irgendwann clever genug werden, um das spitzzukriegen.

"Wir leben in der Welt, in der wir leben. Und der Zucker ist, ob uns das gefällt oder nicht, Teil dieser Welt. Wir sollten uns vor Augen führen, dass wir die Kontrolle nicht ewig aufrechterhalten können", sagt auch Ernährungsexpertin Julia Litschko.

Aber wie das so ist mit Kontrolle: Sie aufzugeben, ist manchmal gar nicht so einfach. Zucker war die ersten anderthalb Jahre der Endgegner – und meine Vermeidungsstrategien nahmen teilweise, im Nachhinein betrachtet, abstruse Formen an. "Ach so, auf der Reiswaffel ist Schokolade? Nein, dann darf er sie leider nicht essen. Sorry!"

Schluss mit zuckerfrei – und jetzt?

Das erste Schokoladeneis in den kleinen Kinderhänden löst bei vielen Eltern wohl gemischte Gefühle aus – irgendwo zwischen "Ach, wie niedlich" und "Herrje, wir haben die Büchse der Pandora geöffnet".

Doch was passiert, wenn man Kindern erlaubt, Zucker zu essen? Skandieren sie plötzlich nur noch "Kuchen! Kuchen!" am Esstisch? Wird Obst und Gemüse jetzt nur noch unter Protest verspeist und bei Vollkornprodukten angeekelt das Gesicht verzogen? Kurze Antwort: nein. Die ganzen Horrorszenarien, in denen mein Kind nur noch nach Pudding und Keksen verlangt, blieben aus.

Mein Sohn kann ein Eis verdrücken und sich danach noch gierig über die Rohkost hermachen. Und er verlangt auch gar nicht jeden Tag nach Süßem. Es hat sich auch bei uns bewahrheitet, was Ernährungsexperten längst wissen: Kinder sind von Natur aus neugierig auf verschiedene Lebensmittel und haben ein feines Gespür dafür, was ihnen guttut. "Unser Körper schützt uns vor einer einseitigen Ernährungsweise", bestätigt Julia Litschko. "Wenn wir also über einen längeren Zeitraum sehr einseitig essen, macht uns der Körper Appetit auf andere Lebensmittel, damit wir gut versorgt sind."

Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser

Vertrauen ist das Stichwort. Seit ich gelernt habe, meinem Sohn zuzutrauen, in Sachen Ernährung mehr Interessen zu haben als nur Süßigkeiten, geht es uns beiden besser. Meinem Sohn, weil er auch mal Schokoladenkuchen essen darf, und mir, weil ich mich entspannen darf.

"Die Kontrolle, die wir ausüben, um unsere Kinder vom Zucker fernzuhalten, macht Süßigkeiten zu etwas Besonderem", sagt auch Julia Litschko. Es sei entscheidend, dass Eltern einen bedürfnisorientierten Umgang mit dem Thema Zucker vorleben – anstatt ihn zu verteufeln. Die Mischung macht's eben.

Welchen Stellenwert zuckerfreie Ernährung hat, zeigte mir erst kürzlich wieder ein Gespräch in der Kita-Garderobe. Ich bedankte mich bei einer anderen Mutter für den mitgebrachten Kuchen zur Geburtstagsfeier ihres Kindes. Sie antwortete mit schuldbewusstem Blick: "Das war jetzt aber leider ein richtiger Kuchen, also mit Zucker und Schokolade." Mein altes Ich hätte jetzt vielleicht kurz gezuckt. Mein neues entspanntes Ich dachte zum Glück nur: Wen juckt's?

Buch-Tipp

Julia Litschko und Katharina Fantl geben in ihrem Buch "Ab heute nur noch zuckerfreu: Denn nicht der Zucker ist das Problem, sondern unser Umgang mit ihm" hilfreiche Ratschläge zum Thema achtsame, intuitive Ernährung: