
Das Spielen mit den eigenen Kindern fühlt sich im stressigen Alltag manchmal wie ein weiteres To-Do auf der unendlich-langen Liste an!? Dabei müssen Eltern keineswegs riesige Lego-Landschaften aufbauen, stundenlang in Barbie-Welten versinken oder sich aufwendig als Chase und Marshall von der Paw Patrol verkleiden, um hechelnd die Welt zu retten. Im Gegenteil ...!
Marga Bielesch ist Paar- und Familientherapeutin. Gunda Göbel ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Zusammen haben die beiden Expertinnen den Ratgeber "Spielend aufwachsen – Wie Spielen eure Bindung und die gesunde Entwicklung deines Kindes unterstützt" (Buchtipp s. u.) geschrieben. Darin möchten sie Eltern ermutigen, dass Spielen sich so viel leichter in den Alltag einbauen lässt. Und damit ein echter Gewinn für die Bindung zu den eigenen Kindern bedeutet.
In Ihrem Buch fällt sehr zentral der Begriff "bindungsstärkendes Spielen". Was können wir darunter verstehen?
Bindungsstärkendes Spiel ist zugewandt, verbindet Eltern und Kind, ist zweckfrei und hat meist kein festgelegtes Ziel. Es unterscheidet sich von klassischen Bindungsspielen dadurch, dass es keiner Anleitung folgt. Dieses Spiel entsteht ganz natürlich im Familienalltag – in den kleinen Momenten, die bewusst wahrgenommen werden. Zum Beispiel, wenn Eltern auf dem Heimweg von der Kita mit ihrem Kind Steine oder Stöckchen sammeln oder Feuerkäfer zählen. In diesen Momenten sind sie mit ihrem Kind in Beziehung, in Kontakt, und handeln zugewandt – genau das ist bindungsstärkendes Spielen. Es vermittelt Kindern, dass sie gesehen werden. Es stillt das Bedürfnis nach Bindung, nach Dialog, nach Selbstwirksamkeit und nach Zugehörigkeit.
Viele Kinder spielen sehr frei und kreativ. Andere brauchen mehr Anleitung und spielen lieber "strukturiertere" Spiele. Ist das Typsache, Erziehung, Gewohnheit? Ergo: Kann und sollte ich das als Elternteil prägen?
Kinder spielen sehr unterschiedlich je nach Temperament, eigenen Interessen, Rahmenbedingungen und Persönlichkeit. Oft ist es nicht zu benennen, ob es Typsache ist oder das Kind durch die Erwachsenenwelt sich zu bestimmten Spielen hingezogen fühlt. Wenn ein Kind immer gelobt wird, weil es nicht matscht, sich nicht schmutzig macht oder leise spielt, wird dieses Verhalten erlernt und hat sicherlich nichts mit dem Temperament zu tun. Wenn wir jedoch Kinder begleiten, von Baby an, kann ein Kind sich frei nach seiner Persönlichkeit entwickeln. Als Elternteil sollten wir das Spielverhalten nicht prägen oder bestimmen. Jedoch sind wir als Eltern immer auch Vorbilder und die Kinder schauen sich alles bei uns ab. Auch unsere Erwartungen zum Spielverhalten. Wir können Kinder jedoch durch Impulse und Spielangebote neugierig machen auf Unbekanntes. Das Kind entscheidet dann, ob es sich darauf einlässt oder nicht oder ob es die Bindungssicherheit eines Elternteils braucht, um sich im Spiel auszuprobieren.
Kita, Musikschule, Arzttermin und dann zum Ballett. Was passiert mit Kindern, die im Alltag zu wenig Zeit für (freies) Spiel haben?
Wenn Kinder zu wenig Zeit zum Spielen haben oder ständig unterbrochen werden in ihrem Spielablauf, beobachten wir in der Praxis eine Sprunghaftigkeit bei diesen Kindern. Häufig zeigt sich durch die fehlenden, grundlegenden Spielerfahrungen ein erhöhtes Stresslevel und eine Zunahme von Ängsten und ganz besonders Entwicklungsverzögerungen und Sprachprobleme.
"Mein Kind spielt nicht!" Ab wann sollte das ein Grund zur Sorge sein?
Erstmal sollten wir definieren, was "nicht Spielen" überhaupt bedeutet. Spielt das Kind nicht nach unseren Vorstellungen? Wirkt es teilnahmslos oder haben wir den Begriff "Spielen" zu eng gefasst. Auch Toben, gemeinsames Kochen oder Tierbobachtung kann Spielen sein. Auf jeden Fall sollten die Eltern sich fragen, ob das Kind plötzlich aufgehört hat zu spielen, gab es eine belastende oder verunsichernde Situation, eine Trennung? Spielen ist die Ausdrucksform eines Kindes und sein Entwicklungsmotor. Spielen ist essenziell für die Entwicklung eines Kindes, sowie für seine Bindungsgestaltung. Manche Kinder vermeiden das Spielen weil sie bewertet wurden, weil sie Angst vor sozialen Situationen haben oder sich nicht sicher oder nicht wohlfühlen. Manche Kinder haben Angst vor der Reaktion bestimmter Erwachsener und gehen in den Rückzug und vermeiden sich im Spiel zu zeigen. Jedoch können auch Entwicklungsverzögerungen, Wahrnehmungsprobleme oder neurologische Gründe eine Rolle spielen.
In ihrem Buch findet sich ein ganzes Kapitel mit der Überschrift "Spielen statt Therapie". Kann Spielen psychologischen Probleme bei Kindern sogar vorbeugen?
Spielen ist sicherlich die beste Prävention gegen psychische Probleme. Dennoch wird Spielen nicht spezielle Ereignisse, Lebensumstände, organische Ursachen oder ein Trauma und daraus resultierenden psychischen Symptome verhindern können. Aber: Spielen bietet Kindern eine emotionale Verarbeitung aller Reize und Erfahrungen. Im Spiel können Ängste, Stress oder kleinere Sorgen verarbeitet werden. Besonders körperliche Aktivitäten oder Bewegungsspiele wirken sich sehr positiv auf das psychische Wohlbefinden aus. Wenn Kinder beim Spielen ihre Gefühle ausdrücken und ausleben dürfen, wirkt es sich positiv auf ihre psychische Entwicklung aus. Im Spielen mit anderen erleben sie ihre soziale Kompetenz und ihre Selbstwirksamkeit. Das stärkt ihre psychische Entwicklung. Spielen statt Therapie ist etwas provokativ und dennoch hat es einen tiefen Hintergrund. Wenn Kinder vom Babyalter an im Spiel viele sensorische Erfahrungen mit ihrer Bezugsperson erleben und eine Resonanz auf ihre Mitteilungen erfahren, wirkt es sich langfristig auf alle Spielphasen, ihre Entwicklung und ihre Spielfreude aus.
Manche Eltern widersprechen nun vielleicht: "Mein Baby spielt doch noch gar nicht richtig!" Sollten wir schon das Spielen unserer Kleinsten fördern?
Alle Kinder spielen – jedes auf seine eigene Weise und in seinem eigenen Tempo. Eltern können schon ihr Baby dabei unterstützen, indem sie es aufmerksam beobachten, ihm immer wieder Spielangebote machen und auf seine Bedürfnisse eingehen. Dreht sich das Kind weg, kann das ein Zeichen von Überreizung sein – vielleicht braucht es gerade eine Pause. Zeigt es Interesse am Spiel, können Eltern darauf eingehen und es weiter begleiten. Doch mehr braucht es nicht: Spielen ist die "Arbeit" eines Kindes und muss nicht gezielt gefördert werden.
Eltern sollten gerade bei Babys und Kleinkindern alters- und entwicklungsangemessene Spielangebote (nicht zu viele Spielmaterialien) bereithalten, zum Beispiel Streichelspiele, mit dem Baby sprechen und lachen, Interaktionsspiele, Fingerspiele, Herzrassel, usw. ...
Gibt es Fehler, die Eltern beim Spielen mit ihren Kindern machen können?
Spielen und gemeinsame Zeit sind Bindungszeit. Damit diese Momente schön, wertvoll und stärkend sind, sollten sie sich auch gut anfühlen. Doch wenn das kindliche Spiel durch die Erwachsenen ständig bewertet oder abgewertet wird, kann das die Freude am Spielen und die Eltern-Kind-Beziehung belasten. Sätze wie: "Immer bist du so bockig und zickig", "Mach doch mal die Haare der Puppe ordentlich", "Du bist immer so wütend, mit dir macht das Spielen keinen Spaß", "Immer willst du bestimmen – darauf habe ich einfach keine Lust. Du bist anstrengend beim Spielen." Solche Aussagen senden einem Kind Botschaften, die es verunsichern, es entmutigen oder seine Spielfreude nehmen. Sie können dazu führen, dass das Kind sich weniger öffnet oder sich zurückzieht.
Deshalb ist es wichtig, achtsam mit Worten umzugehen. Eltern sollten bewusst darauf achten, wie sie mit ihrem Kind sprechen, damit aus einem verbindenden Moment kein Moment der Entfernung wird.
Einige Eltern sagen: "Ich kann einfach nicht so gut frei spielen!", "Ich habe keine Lust!" oder "Ich habe keine Zeit!". Was raten Sie in diesem Fall?
Wir nehmen den Druck von Eltern, wenn sie zum Beispiel keine Lust auf Rollenspiele haben. Spielen soll Spaß bringen und nicht zum Projekt werden! Wir raten Müttern und Vätern sich daran zu erinnern, was sie früher gerne gespielt haben oder welche Interessen sie hatten. Oft ergeben sich daraus schöne Spielideen.
Und im Alltag ist es oft schon ausreichend, das Kind mit einzubeziehen, um gemeinsame schöne Momente zu erleben. Wir verstehen den Begriff Spielen weitreichender. Für sind es nicht nur die klassische Spielaktivitäten, sondern auch die gemeinsame Zeit, in der Kinder und Eltern miteinander in Verbindung treten. Spielen kann alles sein: Basteln, Rollschuhfahren, Trampolin springen, Toben, Schaukeln oder zusammen einen Obstsalat schnippeln. Selbst alltägliche Aufgaben lassen sich spielerisch gestalten – zum Beispiel kann das Kind die Einkaufsliste malen und beim Einkaufen später die gekauften Dinge abhaken. Auch gemeinsam Blumen gießen oder Wäsche aufhängen können spielerische Aktivitäten sein, wenn Eltern zugewandt sind.
Entscheidend ist nicht die Tätigkeit selbst, sondern wie sie gestaltet wird. Wenn Eltern dabei bewusst mit ihrem Kind interagieren, es anschauen, mit ihm sprechen und in Beziehung gehen, dann ist das auch Spielen – und zugleich wertvolle Bindungszeit.
Sie sagen "Bei Spielzeug ist weniger mehr" – was ist sinnvolles Spielzeug?
Auf Social Media sieht man oft perfekt eingerichtete Kinderzimmer mit teurem Spielzeug. Dadurch entsteht schnell der Eindruck, dass bestimmte Materialien notwendig sind, um Kindern das bestmögliche Umfeld zu bieten. Doch was nützt das größte Spielzeug, wenn ein Kind damit alleine spielen muss? Wenn Erwachsene es nicht liebevoll ins Spiel einbinden oder keine Verbindung entsteht? In solchen Fällen kann sich das Kind eher allein gelassen fühlen, anstatt bereichert.
Weniger ist mehr! Spielzeug muss nicht teuer sein – es lässt sich überall finden: Stöcker, Steine, Kastanien, Eicheln oder Papier, Kisten und Töpfe im Haus. Kinder brauchen keine teuren Spielsachen, sondern vor allem gemeinsame Zeit mit ihren Bezugspersonen.
Welche Spiele empfehlen sie allen Familien, weil sie besonders bereichernd sind?
Wunderbare Frage! Wir empfehlen Spiele für alle Sinne. Besonders geeignet und wichtig sind Bewegungsspiele (Schaukeln, Rennen, Balancieren, Hüpfspiele, Tanzen, Ballspiele) sowie Natur und Entdeckungsspiele (Blätter sammeln, Gärtnern, Wasser und Matschspiele). Beim Spielen, egal welcher Art, sollten Eltern alles benennen (vor der Schaukel, hinter der Rutsche, Wald, Blätter, Rasen, auch die Gefühle des Kindes), damit spielerisch die Sprache erlernt und der Wortschatz erweitert wird. Spiele sind immer dann bereichernd, wenn sie Freude bereiten und schöne Momente.