"Bitte ohne Schreien!"

Geht Erziehen ohne Schimpfen überhaupt?

Ein Trend auf dem Elternratgeber-Markt verunsichert unsere Autorin: Erziehung ganz ohne Schimpfen und Schreien predigen die Bücher. Klingt niedergeschrieben sinnvoll und logisch. Aber funktioniert das in der Praxis? Silke Schröckert fragt bei Mama-Coach Imke Dohmen nach.

Erziehung ohne Schimpfen. Kann das klappen?© Foto: iStock/fizkes
Erziehung ohne Schimpfen. Kann das klappen?

Ich gebe zu: Eine große Ratgeber-Leserin war ich noch nie. Vor allem nicht, wenn es ums Elternwerden und Elternsein geht. Aber wenn ein Thema so auffällig häufig immer wieder in den Top-Listen auftaucht, dann greife sogar ich zum Selbsthilfe-Wälzer. "Wenn du mit mir schimpfst, kann ich mich nicht leiden, Mama" kam bereits vor drei Jahren auf den Markt. Ich gebe erneut zu: Die Autorin Petra Krantz Lindgren trifft schon mit dem Titel in mein Herz. Natürlich weiß ich, dass es nur Verlierer gibt, wenn ich im Alltag laut werde. Ich fühle mich schlecht, aber noch viel schlimmer: Meine Kinder fühlen sich schlecht. "Mama, nicht schreien!" fordern deshalb auch die Autorinnen Jeannine Mik und Sandra Teml-Jetter in ihrem gemeinsamen Buch. Und auch Nicola Schmidt, die Autorin der "artgerecht"-Bestsellerserie, gibt in ihrem Ratgeber "Erziehen ohne Schimpfen" Tipps und Tricks für eine "artgerechte" Erziehung – eben ohne Schimpfen.

Erziehen ohne Schimpfen? Der Gedanke stresst mich

Ein Mama-Alltag GANZ ohne Schimpfen? Ich bin ehrlich: Allein dieser Anspruch setzt mich unter Druck. Wer kann denn von sich behaupten, dass er NIE laut wird? Das ungute Gefühl in meiner Magengrube wird stärker, als ich ein Webinar mit Sandra Teml-Jetter verfolge, einer der Autorinnen von "Mama, nicht schreien". Sie will darin unter anderem mit dem "Mythos" aufräumen, dass Eltern immer ihr Bestes gäben. Und zitiert dafür den Kommentar einer Zuschauerin, die kurz zuvor schrieb, sie wisse ja in dem Moment des Schreiens bereits, dass sie gemein zu ihrem Kind sei. "Wenn ich sage, ich weiß, dass ich gemein bin, gebe ich NICHT mein Bestes", urteilt die Autorin. Ich muss tief schlucken. Das fühlt sich ein bisschen an wie früher, wenn man Ärger vom Lehrer bekam. Und genau wie damals in der 10. Klasse verfalle ich auch jetzt sofort in Rechtfertigungen. Leise, vor mir selbst.

Anruf beim Mama-Coach: Geht Kindererziehuung auch ohne Schreien?

Doch das reicht mir nicht: Ich muss reden. Zum Glück erreiche ich die Expertin meines Vertrauens sofort telefonisch: Ich überfalle Mama-Coach Imke Dohmen hysterisch mit meinem Gedankenchaos: GAR nicht schreien? Geht das wirklich? Kannst du das? Kannst du das Müttern beibringen? Bin ich eine schlechte Mutter, weil ich manchmal schimpfe? Und weil ich finde, dass Schimpfen einfach auch dazu gehört?

Meine Gesprächspartnerin bleibt zum Glück gelassen: Sie ist Situationen wie diese gewohnt. Imke ist psychologischer Coach und Heilpraktikerin für Psychotherapie. Unter ihrer Marke Mutterhelden berät sie gezielt junge Mütter (und auch Väter) in problematischen, angstvollen, stressigen oder widersprüchlichen Situationen. Oder eben in Situationen voller Selbstzweifel – so wie in meinem kleinen Fall gerade.

Schimpfen und Schreien sind verschiedene Dinge

"Zuallererst müssen wir zwei Dinge trennen", findet Imke: "Schreien und Schimpfen. Schimpfen ist ja nicht immer gleich Schreien, oder?" Recht hat sie. Ich kann durchaus auch im normalen Ton Schimpfen. Aber macht es das besser? "Schimpfst du manchmal mit deinem Mann?", stellt Imke als Gegenfrage. Ich überlege kurz, ob das eine Fangfrage wird, bleibe aber lieber ehrlich: "Natürlich", räume ich ein. "Dann wissen deine Kinder, dass Schimpfen zu deinem Leben dazu gehört." Ich grummele kurz etwas vor mich hin. Super, jetzt bin ich also die Mutter, die mit ihren Kindern UND mit ihrem Mann schimpft. Doch natürlich verstehe ich, was Imke in Wahrheit meint: Kinder beobachten. Und wenn sie sehen, dass mein Mann und ich verschiedener Meinung sein können und uns trotzdem danach wieder liebhaben, dann können sie das auch auf sich übertragen.

Schimpfen darf kein Machtdialog sein

"Wichtig ist die Frage, WIE diese Auseinandersetzungen stattfinden", fährt Imke fort. "Natürlich ist es leichter, mit deinem Mann ein Gespräch auf Augenhöhe zu führen. Diese Augenhöhe darf nicht verloren gehen, wenn du mit deinen Kindern schimpfen musst. Schimpfen darf kein Machtdialog werden. DAS wollen diese Bücher dir vermitteln. Um Grenzen kommen wir alle nicht herum. Natürlich musst du schimpfen, wenn dein Kind bei Rot über die Ampel geht. Aber unqualifiziertes Schreien als Machtgehabe gegenüber den Kindern – das brauchen wir alle wirklich nicht."

Unerfüllte Bedürfnisse als Ursache fürs Schimpfen

Nein, das braucht niemand. Und trotzdem: Zwischen dem sinnvollen, logischen Geh-nicht-über-die-rote-Ampel-denn-das-ist-gefährlich-Schimpfen rutscht mir trotzdem immer mal wieder ein unnötiges, ungerechtes Schreien durch. "Stell dir dein Schreien als Symptom vor", bittet mich Imke. "Dahinter steckt ein Gefühl – in dem Fall natürlich kein gutes. Und das wiederum wird ausgelöst durch ein unerfülltes Bedürfnis. Fehlende Wertschätzung vielleicht. Dann hilft es, sich vor Augen zu führen, ob man diese gerade an der richtigen Stelle einfordert. Schreie ich, weil mein Kind schon wieder sein Essen nicht essen mag? Weil mich das wütend macht, da ich dafür lange in der Küche stand, und niemand das wertschätzt? Aber kann ich denn wirklich von einem Dreijährigen Wertschätzung fürs Essen verlangen?" Ich merke: Es gibt viel zu hinterfragen. Und wenn man alles erst einmal richtig beantwortet hat, gibt es auch gar nicht mehr so viel zu schimpfen und zu schreien. "Genau darum geht es", fasst Imke zusammen: "Schreien, vor allem unreflektiertes Brüllen, sollte kein Ausdruck unserer Gefühle sein."

Kinder lernen und merken sich so etwas. Und genau da greift zum Beispiel der Ansatz von Nicola Schmidt: Wir haben jetzt die Chance, das Schimpfen nicht als Druckmittel an die nächste Generation weiterzugeben."

Wichtigstes To-Do: eigene Bedürfnisse erfüllen

Ich lese mittlerweile jeden Abend vor dem Schlafengehen quer durch alle drei Bücher. Und aus jedem einzelnen ziehe ich wertvolle Tipps und hilfreiche Erkenntnisse heraus. Vor allem aber führe ich mir immer wieder vor Augen: Die eigenen Bedürfnisse spielen eine ziemlich große Rolle, wenn man das innere Schreimonster besänftigen möchte. Deshalb krönt gerade ein viertes Buch den Stapel auf meinem Nachttisch: "WOW MOM: Der Mama-Mutmacher fürs erste Jahr mit Kind" von Lisa Harmann und Katharina Nachtsheim. Ein Ratgeber, in dem es nicht ums Kind, sondern mal nur um die Mama und ihre Bedürfnisse geht. Das tut zur Abwechslung einfach richtig gut, finde ich. Selbst wenn mein "erstes Jahr mit Kind" schon fünf Jahre her ist: Die Botschaft "Wow, was du alles leistest, Mom!“ lese ich auch heute noch gern. Gerade nach einem Tag, an dem ich es doch mal wieder nicht ganz ohne Schimpfen geschafft habe."

"WOW MOM"

WOW MOM: Der Mama-Mutmacher fürs erste Jahr mit Kind

Von Lisa Harmann und Katharina Nachtsheim, 16,99, Krüger Verlag

"Erziehen ohne Schimpfen"

"Mama, nicht schreien!"

Mama, nicht schreien! Liebevoll bleiben bei Stress, Wut und starken Gefühlen

Von Jeannine Mik und Sandra Teml-Jetter, 16,00 Euro, Krösel Verlag

"Wenn du mit mir schimpfst, kann ich mich nicht leiden, Mama"

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