Schluss mit Schubladendenken

Ist mein Kind noch normal? Oder einfach ganz besonders?

Hochsensibel, autistisch oder hochbegabt – gefühlt sind viele Kinder nicht mehr einfach Kinder, sondern haben irgendeine Diagnose. Was ist dran an all den Stempeln, die wir den Kleinen manchmal viel zu schnell aufdrücken, und wann sollten Eltern wirklich aufmerksam werden?

Hyperaktiv oder einfach nur gut drauf? Kinder werden heutzutage leider schnell mal mit einer Diagnose bedacht. © Foto: Getty Images/Catherine Falls Commercial
Hyperaktiv oder einfach nur gut drauf? Kinder werden heutzutage leider schnell mal mit einer Diagnose bedacht.

Mehr als zwei Jahrzehnte arbeitet die Diplom-Pädagogin, mit der ich für diesen Text spreche, schon mit Familien – und sie hat in dieser Zeit schon einige Trends im "Labeling", also dem Diagnosen-Stempel-Aufdrücken bei Kindern, miterlebt. "Wir hatten viele Jahre das Label AD(H)S, und jetzt erlebe ich, dass die Autismus-Spektrum-Störung zunimmt", sagt Andrea Hendrich. Dabei sind genau diese zwei Labels schon Diagnosen, die über verschiedene psychologische Testungen abgesichert werden müssen. Aus der Praxis weiß Hendrich, dass es notwendig sein kann, ein Label an Kinder zu vergeben, etwa dann, wenn es um die Kostenübernahme von Förderungsmaßnahmen durch die Krankenkassen geht. Die brauchen eine Diagnose, sonst unterstützen sie Familien nicht. 

"Aber insgesamt", so die Expertin, die bei der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung e.V. online gemeinsam mit anderen Fachberatern u.a. Eltern mit Kindern von null bis 21 Jahren anonym und kostenlos berät, "ist das Labeling für mich eher ein Gefängnis, in dem die Kinder dann drinstecken. Die Frage ist ja, ob sie da wieder rauskommen." Denn Kinder entwickeln sich, nehmen aber gleichzeitig sehr stark wahr, was die Eltern möchten, wie sie sich verhalten. Für die Erwachsenen sind die Stempel häufig eine Erleichterung. "Eine Diagnose ist oft entlastend für die Eltern, auch weil dann niemand schuld ist. Ich gehe natürlich auch lieber mit einem hochbegabten Kind in verschiedene Einrichtungen als mit einem verhaltensauffälligen. Denn dann müsste ich mich fragen, ob das was mit mir zu tun hat", so Hendrich. Für die Kleinen bedeutet es aber, dass sie nicht mehr als Personen wahrgenommen werden, sondern nur noch durch ihr Label.

Genaue Abgrenzung ist bei der Diagnose wichtig

"In Studien zu ADHS konnte der Kinderund Jugendpsychiater Karl Heinz Brisch beispielsweise nachweisen, dass viele der Fälle, die als ADHS diagnostiziert werden, eigentlich Bindungsstörungen sind." Das sollte uns Eltern zu denken geben, führt es doch unweigerlich zur Frage: Wie sehe ich denn mein Kind? Nehme ich es mit seinen Eigenheiten wahr, gebe ich uns die Chance, dass wir einander immer besser kennenlernen, oder möchte ich, dass mein Nachwuchs so reagiert, wie es meinem Ideal entspricht? Andrea Hendrich spricht davon, dass sie in ihren Beratungen eine schwindende Elternverantwortung wahrnimmt. Dabei geht es nie um die Frage, wer schuld daran ist, dass ein Kind nun so ist, wie es ist. Sondern darum, die Verantwortung zu übernehmen für den weiteren gemeinsamen Weg.

Was ist schon normal?

"Natürlich spielt Genetik eine Rolle und damit auch das angeborene Temperament. Aber letztlich geht es darum, die Bedürfnisse des Kindes zu sehen", sagt die Familientherapeutin. Und die mögen nicht mit den eigenen Wünschen übereinstimmen, aber das ist bei allen Menschen so. Unsere Gesellschaft kann es beispielsweise nicht gut ertragen, wenn jemand laut oder aggressiv ist. Da hören Eltern oft, dass der Nachwuchs wohl verhaltensauffällig sei. Bei sehr stillen, angepassten Kindern gibt es dieses Label dagegen selten. "Eigentlich sollte uns das sehr ängstliche Kind mindestens genauso viel Sorgen machen. Meistens tun wir uns eher mit sehr aktiven, aggressiven Kindern schwer. Umso mehr, wenn wir selber eigene Gefühle schwer zulassen können", erklärt Hendrich. Vermutlich jedes Elternteil kommt irgendwann an den Punkt, dass es beim Anblick eines Kleinkindes in der Autonomiephase denkt, dass das nicht ganz normal ist. Aber die Spannbreite dessen, was normal ist, ist ziemlich groß. Und es liegt an uns, uns dafür auch zu öffnen und unsere Kinder so sein zu lassen, wie sie sind.

Das gilt auch für das Label hochsensibel. Expertin Hendrich kam in der Erziehungsberatung damit noch nicht in Kontakt. "Wenn ich als Therapeutin darauf gucke, dann beschreibt das ein Kind, das sehr intelligent ist, das sehr stark Dinge wahrnimmt und das für bestimmte Übergänge sehr viel Struktur und Fokussierung braucht." Konkret bedeutet das: Statt einer Ansage, dass es in fünf Minuten zur Oma geht, hilft es, hochsensiblen Kindern schon einen Tag vorher den Hinweis auf das heutige Ereignis zu geben. Diese Kinder brauchen stärker einen klaren Rahmen und mehr Konzentration auf das Wesentliche, weil ihnen das Sicherheit gibt. Andrea Hendrich gibt aber zu bedenken: "Die Frage ist doch: Brauchen wir an der Stelle das Label oder haben wir den Mut zu sagen, mein Kind braucht etwas anderes als das andere?"

Labels sind nicht immer hilfreich

Auch bei hochbegabten Kindern ist die Frage, inwieweit dieser Stempel ihnen wirklich hilft. Allzu oft vermuten Eltern, dass ihr Nachwuchs besonders intelligent ist, weil er oder sie in einem Teilbereich begabt ist. Meist handelt es sich dabei um kindliche Neugier und Wissbegierigkeit. Ein Test lohnt sich bei Kindern, die sich zum Beispiel mit drei Jahren Spanisch selbst beibringen. Und dann bleibt die Frage, was das Label dem Kind in diesem Alter nutzt. Wäre es nicht förderlicher, wenn Eltern auf die besonderen Interessen ihrer Kinder einfach feinfühlig eingehen und die Diagnostik auf den Schuleintritt verschieben? Für Hendrich ist das ein gangbarer Weg. Natürlich sollten Eltern ihre Sorgen immer auch mit dem Kinderarzt besprechen. Aber dabei sollten sie auch überlegen, warum ein Label für sie wichtig ist. 

AD(H)S

Was ist das? Kinder, bei denen ADHS diagnostiziert wird, gelten als besonders impulsiv, chaotisch und können sich schlecht konzentrieren.
Wer wird in diese Schublade gesteckt? Zappelige, unkonzentrierte Kinder, die öfter hinfallen und einen großen Bewegungsdrang haben.
Wann sollte ich mir Hilfe suchen? Die Diagnostik zu AD(H)S wird oft erst nach dem 6. Lebensjahr gestartet.

Verhaltensauffällig

Was ist das? Kinder mit starkem Willen, die auch mal aggressiv reagieren, werden oft als verhaltensauffällig beschrieben.
Wer wird in diese Schublade gesteckt? Aggressive, eher laute Kinder, die ihren Willen durchsetzen wollen, bekommen fast immer das Label verhaltensauffällig bzw. verhaltensoriginell.
Wann sollte ich mir Hilfe suchen? Wenn ihr als Elternteil das Gefühl habt, mit den Emotionen nicht zurechtzukommen. Wichtig ist, bei sich selbst anzusetzen, denn die ganze Bandbreite der Emotionen darf gelebt werden.

Hochbegabt

Was ist das? Hochbegabte Kinder sind überdurchschnittlich intelligent, haben ganz spezielle Interessengebiete und sind Gleichaltrigen oft weit voraus.
Wer wird in diese Schublade gesteckt? Zu viele Kinder, die einfach nur neugierig und wissbegierig sind.
Wann sollte ich mir Hilfe suchen? Wenn beispielsweise dreijährige Kinder sich selbst lesen oder Fremdsprachen beibringen. Erst mal mit dem Kinderarzt darüber sprechen. Eventuell lohnt dann später ein Test auf Hochbegabung. 

Hochsensibel

Was ist das? Hochsensible Kinder sind oft sehr intelligent. Sie nehmen Dinge stark wahr, brauchen Hilfe bei Konzentration auf das Wesentliche und auch Auszeiten.
Wer wird in diese Schublade gesteckt? Kinder, die starke Emotionen entwickeln, wenn ungewohnte Abläufe sie überfordern.
Wann sollte ich mir Hilfe suchen? Es lohnt bei hochsensiblen Kindern eher der Gang zur Beratung für die Eltern, damit sie dabei unterstützt werden, besser auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen. 

Autorin: Andrea Zschocher

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