
Sollte mein Kind nicht schon die ersten freien Schritte gemacht haben? Wann lernt es, mit dem Löffel zu essen? Und wie lange dauert es, bis es sein erstes Wort spricht? Wenn es um Meilensteine in der Entwicklung geht, sind Eltern meist ziemlich ungeduldig – und vergleichen sich oft mit anderen. Braucht das eigene Kind länger, um einen Entwicklungsschritt zu erreichen, werden viele schnell nervös. Dabei ist klar: Jedes Kind ist individuell und hat sein eigenes Tempo. Manche können früher laufen und sprechen dafür später – oder andersrum. So weit, so natürlich. Dennoch gibt es bestimmte Richtlinien, an denen sich Eltern orientieren können. Wenn Kinder bis zu einem bestimmten Alter wichtige Fähigkeiten noch nicht erlernt haben, ist es sinnvoll, sich an den Kinderarzt zu wenden.
Kinderärztin Dr. Maria Bea Merscher Alves erklärt, bei welchen Warnzeichen Eltern genau hinschauen und reagieren sollten.
Sprachliche Warnzeichen
15 Monate:
Das Kind …
… versucht nicht, ein oder zwei Wörter zusätzlich zu "Mama" und "Papa" zu sagen.
… schaut nicht auf eine Person oder einen Gegenstand, wenn er benannt wird.
… zeigt nicht auf etwas, um nach etwas zu fragen oder um um Hilfe zu bitten.
18 Monate:
Das Kind …
… versucht nicht, mehr als drei Wörter zusätzlich zu "Mama“ und „Papa" zu sagen.
… befolgt keine einfachen Anweisungen wie "Gib mir das Spielzeug".
24 Monate:
Das Kind …
… spricht nicht mindestens 50 Wörter.
… kann keine Zweiwortsätze formulieren.
… versteht keine einfachen Aufforderungen.
Motorische Warnzeichen
15 Monate:
Das Kind …
… kann keinen Pinzettengriff ausführen.
… macht keine Schritte allein, wobei es sich abstützt.
… benutzt nicht die Finger zum Essen.
18 Monate:
Das Kind …
… kann nicht alleine gehen.
… kann nicht ohne Unterstützung gehen.
… zeichnet keine Kritzeleien.
… trinkt nicht aus einem offenen Becher.
… versucht nicht, einen Löffel zu benutzen.
… kann nicht ohne Hilfe von einem Stuhl oder Sofa auf- und absteigen.
24 Monate:
Das Kind …
... hat Schwierigkeiten beim Gehen.
… kann nicht drei Stufen an der Hand heruntergehen.
… kann keine kleinen Gegenstände wie Bonbons auspacken.
… kann nicht selber mit dem Löffel essen.
Kognitive Warnzeichen:
15 Monate:
Das Kind …
… versucht nicht, Dinge auf die richtige Weise zu benutzen, z. B. einen Löffel zum Mund zu führen.
… stapelt keine Gegenstände wie Holzklötzchen.
18 Monate:
Das Kind …
… ahmt nicht die Tätigkeiten seiner Bezugsperson nach, wie Fegen oder Haarebürsten.
… spielt nicht auf einfache Weise mit Spielzeug, wie z. B. ein Auto schieben.
24 Monate:
Das Kind …
… kann im Bilderbuch keine bekannten Gegenstände zeigen.
… kann nicht drei Würfel stapeln.
… hat kein Interesse an anderen Kindern.
Entwicklungsverzögerung: Wie geht es jetzt weiter?
"Wenn die Eltern eines der Warnzeichen bei ihrem Kind feststellen, sollte der erste Gang immer zum behandelnden Kinderarzt sein", erklärt Maria Bea Merscher Alves. Es ist wichtig, dass Eltern dort offen ihre Beobachtungen mitteilen. Um eventuelle Entwicklungsverzögerungen frühzeitig zu erkennen, ist entscheidend, dass Eltern die U-Untersuchungen zuverlässig wahrnehmen.
Ob weiterführende Diagnostik oder Behandlungen notwendig sind, wird individuell entschieden. "Je nachdem welches Warnzeichen beobachtet wird, also zum Beispiel im Bereich der Sprache, kann eine Sprachentwicklungsverzögerung vorliegen. Dies kann ein Hinweis auf eine bisher nicht erkannte Schwerhörigkeit sein, sodass bei Sprachentwicklungsverzögerungen immer der erste Gang zu einem HNO-Arzt sein sollte", so die Kinderärztin.
"Manchmal kann auch eine globale Entwicklungsverzögerung vorliegen, also eine Sprachentwicklungsverzögerung kombiniert mit motorischen Entwicklungsverzögerungen." Dies kann ein Hinweis auf Autismus sein. "Die Verdachtsdiagnose Autismus wird auch gestellt, wenn Defizite im Bereich der Sozialkompetenzen auffallen, die ebenfalls beurteilt werden, also zum Beispiel die Interaktion mit anderen Kindern im Spiel."
Bei globalen Entwicklungsverzögerungen erfolgt in der Regel eine Anbindung in ein SPZ (sozialpädiatrisches Zentrum). "Dort wird die Entwicklung durch Kinderneurologen, Kinderpsychologen, Ergotherapeuten, Logopäden, Phyiotherapeuten und Heilpädagogen im Detail beurteilt und bewertet. Leider beträgt die Wartezeit in Deutschland aktuell hierfür ein Jahr."
Therapiemöglichkeiten und Prognosen
Wie gut eine Entwicklungsverzögerung therapiert werden kann, ist von der Diagnose des Kindes abhängig. "Bei einer Schwerhörigkeit ist mittels eines Hörgerätes oder der Einlage von Paukenröhrchen – wenn ein chronischer Paukenerguss vorliegt – eine sehr schnelle Besserung des Sprachvermögens des Kindes zu erwarten", weiß Maria Bea Merscher Alves. "Bei Diagnosen wie dem Autismus ist die Prognose individuell sehr unterschiedlich, da es nur leichte Formen, aber auch sehr schwere Formen gibt."
Anders ist die Lage bei isolierten motorischen Entwicklungsstörungen: Hier kann meist durch eine gute Physio- und Ergotherapie eine erfolgreiche Entwicklung erzielt werden. "Wichtig zu erwähnen ist hierbei, dass Kinder mit nicht heilbaren Diagnosen wie Autismus nicht im Vergleich zu gesunden Kindern gesehen werden sollten", erklärt die Kinderärztin. "Es sollte immer die persönliche Entwicklung beurteilt werden, also was konnte das Kind ohne Therapie und was kann es jetzt durch die Therapie."