
Etwa jede zweite Familie in Deutschland hat "nur" ein Kind. Die Ein-Kind-Familie ist damit also nichts Außergewöhnliches, und ein Einzelkind zu sein ist keine exotische Lebensform. Und dennoch halten sich die Vorurteile hartnäckig. Dabei haben Studien längst ergeben: Nein, Einzelkinder sind nicht automatisch einsam und egoistisch. Das wäre ja auch dramatisch – schließlich ist die Ein-Kind-Familie die Familienform, die heutzutage am stärksten wächst.
Dennoch können natürlich auch Einzelkinder – so wie Menschen mit ein, zwei, drei oder mehr Geschwistern – im späteren Leben mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben, die es psychologisch aufzuarbeiten gilt. Und tatsächlich zeigen sich je nach Familienkonstellation oft dieselben Muster. "Ob jemand ein Einzelkind, ältestes, mittleres oder jüngstes Kind ist – alles hat seine Vor- und Nachteile", so Familientherapeutin Priya Tahim gegenüber "Huffpost". "Es kommt darauf an, wie wir aufwachsen, lernen, uns anzupassen." Bei Einzelkindern sind es vor allem die folgenden fünf Themen, die in Therapien zur Sprache kommen.
1. Sie fühlen sich stigmatisiert
Für die meisten Menschen ist es auch heutzutage noch die Norm, mit Geschwistern aufzuwachsen. Einzelkinder begegnen deshalb oft Vorurteilen. "Einzelkind zu sein ist definitiv immer noch ein Stigma, denn Familien mit zwei bis drei Kindern gelten immer noch eher als die Norm", erklärt Priya Tahim.
Erschwerend kommt hinzu, dass Einzelkinder in Filmen und Fernsehsendungen oft negativ dargestellt werden, etwa als verwöhnt, egoistisch und mit mangelhafter sozialer Intelligenz.
Es brauche mehr positive Darstellungen, die die Stärken und Vorteile des Aufwachens als Einzelkind in den Mittelpunkt stellen, so die Expertin.
2. Sie sind zu perfektionistisch
Als Einzelkind ist die Beziehung zu den Eltern meist automatisch besonders eng. Das kann auch Nachteile haben, da sie oft das Gefühl haben, besonders beobachtet zu werden und sich keine Fehler erlauben zu dürfen. "Einzelkinder können unter extremem Druck stehen, in ihrem Lebens herausragende Leistungen zu erbringen, was zu Perfektionismus führen kann", sagt die Therapeutin Altheresa Clark. Dieser hohe Anspruch an sich selbst kann dazu führen, dass sie ihr Leben lang Angst davor haben, andere zu enttäuschen.
Oftmals sei es schon hilfreich, diese Zusammenhänge überhaupt erst mal zu erkennen, damit Einzelkinder lernen, nicht so hart mit sich ins Gericht zu gehen.
3. Sie sehnen sich nach Geschwistern
Immer wieder kommt es vor, dass erwachsene Einzelkinder in Therapien erzählen, dass sie es vermissen, Geschwister zu haben. Vor allem, wenn sie aus kleinen Familien kommen und wenig Verwandtschaft haben, kann ein Gefühl der Einsamkeit auftreten. "An Feiertagen kann es für manche Einzelkinder besonders einsam sein, weil es dann oft nicht die großen Familientreffen gibt, die man aus Filmen und Fernsehen kennt", erklärt Psychotherapeutin Rebecca Greene.
Viele Einzelkinder sind jedoch besonders gut darin, sich enge Freundschaften zu suchen, die sich für sie wie Familie anfühlen.
4. Sie fühlen sich für die Pflege der Eltern verantwortlich
"Viele erwachsene Einzelkinder fühlen sich überfordert und gestresst, wenn sie die einzige Person in ihrer Familie sind, die die Altenpflege der Eltern übernimmt", so Rebecca Greene.
Wenn das Kind in der Nähe wohnt, kann dies unter anderem bedeuten, die Eltern zu Arztterminen zu bringen, für sie zu kochen und die finanziellen Angelegenheiten zu regeln. Besonders kompliziert wird es, wenn ein Einzelkind weit weg von seinen Eltern wohnt. Sie empfiehlt daher, sich Unterstützung zu holen und im Vorfeld klare Absprachen zu treffen.
5. Sie sind (zu unabhängig)
Einzelkinder sind oft sehr selbstständig und kommen wunderbar allein zurecht – eine Stärke, die jedoch zugleich auch eine Schwäche sein kann. "Einzelkinder sind oft Menschen, die die Initiative ergreifen, sie sind großartige Führungspersönlichkeiten und erledigen Dinge auf ihre eigene Weise", weiß Rebecca Greene. "Andere sehen sie jedoch manchmal als herrisch an."
Für einige Einzelkinder kann es daher sinnvoll sein, an ihrer Kommunikationsfähigkeit zu arbeiten und etwa auf Ich-Botschaften zu setzen. "Auf diese Weise lassen sich Gefühle oder Bedürfnisse ausdrücken, und der Schwerpunkt wird darauf gelegt, wie man sich selbst fühlt."