
Wir hören immer wieder Geschichten über Männer und Frauen, die Kindern Dinge antun, die nicht einmal die Ermittler aussprechen wollen. Sie reden auf Pressekonferenzen von "unfassbaren Bildern". Von Dingen, "die man sich nicht vorstellen kann". Politiker streiten über Strafen für Kinderschänder. Und die Opfer?
"Wir werden wie immer vergessen", sagt Sabrina, und wenn Sabrina "wir" sagt, dann spricht sie für sich, und stellvertretend für Tausende, die in den vergangenen Jahren missbraucht wurden. Laut Kriminalstatistik betrifft das täglich 43 Kinder in Deutschland. Doch all die Fälle, die allein in den vergangenen Wochen ans Licht kamen, lassen erahnen, wie unfassbar hoch die Dunkelziffer ist.
"Die Zahl 43 bildet definitiv nur die Spitze des Eisbergs ab", sagt Sabrina, die inzwischen 39 Jahre alt ist – und noch immer unter den Taten leidet, die ihr vor fast drei Jahrzehnten angetan wurden. Uns hat sie ihre Geschichte erzählt. Eine Geschichte, die fassungslos macht.
Sabrina ist zehn Jahre alt, als ihr Vater sie zum ersten Mal vergewaltigt.
Eine der ersten Erinnerungen von Sabrina ist das Feuer. In der Wohnung ihrer Eltern fällt eine Kerze um, und als die Feuerwehr eintrifft, sind die Flammen schon überall – auch im Kinderzimmer. Die Rettungskräfte bringen die damals fünfjährige Sabrina und ihre Eltern in Sicherheit. Für Sabrinas sieben Jahre ältere Schwester kommt jede Hilfe zu spät. Und Sabrina hat eigentlich längst genug Grausames für eine ganze Kindheit erlebt.
"Das Schlimmste aber begann erst danach", erzählt sie. "Kurz nach dem Tod meiner Schwester ging es los, dass mein Vater nachts zu mir ins Bett kam. Er fasste mich zwischen den Beinen an und sagte immer wieder 'Es ist sehr schön, Du musst keine Angst haben.' Dabei befriedigte er sich selbst. Irgendwann reichte ihm das nicht mehr. Als ich zehn Jahre alt war, sperrte er mich im Keller ein und vergewaltigte mich."
Weder ihre Mutter noch das Jugendamt hilft ihr.
Jahrelang vergeht der Mann sich an seiner Tochter. "Das Jugendamt ging bei uns ein und aus, aber niemand tat etwas, nicht einmal meine Mutter", erzählt sie. "Ich sah irgendwann keinen Ausweg mehr und lief von zu Hause weg. Ich landete als Teenager auf der Straße, aber das war tatsächlich immer noch besser, als zu Hause missbraucht zu werden. Das muss man sich mal klarmachen."
Mit 17 Jahren wird Sabrina das erste Mal schwanger, mit 21 das zweite Mal – doch auch der Vater ihrer Kinder ist nicht der liebevolle Partner, den sie nach all den Jahren verdient hätte. "Er war gewalttätig, behandelte mich nicht gut", sagt Sabrina.
Es dauert Jahre, bis Sabrina in der Lage ist, ein "normales" Leben zu führen.

"Ich bekam noch drei Kinder von einem anderen Mann", erzählt sie. "Er brachte mich zwar dazu, meinen Schulabschluss nachzuholen und eine Ausbildung zu machen, aber auch mit ihm konnte ich nicht zusammen sein. Wenn man über Jahre vergewaltigt wird, hat man ein komplett gestörtes Verhältnis zur Sexualität, kann kaum noch vertrauen und hat eine riesige Angst, wieder von dem Menschen enttäuscht zu werden, den man liebt."
Anstatt ihre Energie in Beziehungen zu investieren, die zerbrechen, beginnt Sabrina, sich für Missbrauchsopfer einzusetzen. "Ich habe mit Unterstützung der Karuna Sozialgenossenschaft einen Begegnungstreff gegründet", sagt sie. Sabrina organisiert seit Jahren Aktionen gegen Kindesmissbrauch, schrieb ihre Geschichte auf. "Aber ehrlich gesagt habe ich manchmal das Gefühlt, dass das alles niemanden interessiert", sagt sie.
"Ich kann Hunderte Bilder auf Facebook posten, die Leute liken solche Sachen wie Essen und Sonnenuntergänge, bei solch profanen Dingen kommen Kommentare ohne Ende. Aber wenn ich etwas über sexuellen Missbrauch poste, verstummen alle. Es ist erschreckend, dass das noch immer ein Tabuthema in unserer Gesellschaft ist. Anstatt dass wir alle aufstehen und gemeinsam für die Rechte und den Schutz unserer Kinder kämpfen, bleiben die meisten einfach sitzen und schauen zu. Weil ihnen der Mut fehlt. Und das kommt den Tätern zu gute."
"Die Täter zerstören das ganze Leben."
Wenn Sabrina Aussagen wie die von NRW-Innenminister Herbert Reul hört, dass Kindesmissbrauch wie Mord ist, nickt sie laut. "Mit dem großen Unterschied, dass die Opfer nicht einfach tot sind, sondern das, was passiert ist, für immer mit sich herumtragen. Jeden einzelnen Tag. Für mich sind Menschen wie mein Vater Seelenmörder, sie zerstören ganze Leben. Ich sage immer, jeder Mensch hat Tausende Chancen verdient, wenn er etwas falsch gemacht hat", sagt die fünffache Mutter, die in Krefeld lebt und inzwischen Medizin studiert, "aber es gibt Ausnahmen. Und dazu gehören diese ekelhaften Monster, die teils mit Bewährungsstrafen davon kommen und deshalb immer weitermachen. Es ist und bleibt mir unbegreiflich, wie man Lust dabei empfinden kann, wenn kleine Kinder leiden, um ihr Leben schreien – oder nicht wissen, wie ihnen geschieht."
Inzwischen hat Sabrina die Kraft, Sätze wie diese zu sagen. "Und ich sage sie auch für alle, die dazu nicht oder noch nicht in der Lage sind. Damit werde ich niemals aufhören."